Die andere Großmutter ist heute da, und nachdem wir zusammen auf dem Spielplatz waren und Café con leche mit Medialunas gegessen haben, nutzten wir sie als Babysitter und sind zu Percantos altem Frisör gegangen. Oben hat Víctor Percanto die Haare geschnitten, im Erdgeschoss hat mir Walter einen etwas fransigeren Schnitt verpasst. Er war von oben bis unten tätowiert, darum hab ich lieber dazugesagt, dass ich „eher klassisch“ bin. Ist auch im Prinzip die gleiche Frisur wie immer, nur etwas deutlichere Stufen. Ich war schon einmal dort, damals war es noch „D’Antuan“ und ging über die doppelte Ladenbreite, im oberen Stockwerk saß man in einem prachtvollen Saal wie in Museumsnischen für Marmorstatuen unter großen Bögen. Unten war es heute ein gewöhnlicher Frisör, nur mit extragroßen Spiegeln. Oben werden nur die Männerköpfe geschnitten, und dort liegen keine Promi-Zeitschriften aus, sondern es läuft, wie man auf dem Bild sehen kann, ein Fernseher mit Fußball.
Frisör ist in Argentinien ein klassischer Männer-Beruf, es gibt auch einzelne Frauen, aber denen seien die Haare besser nicht anzuvertrauen, sagt man (das ist mein Beitrag zum Internationalen Tag der Frau 2010). Wie in fast überall ist im Laden mehr Personal als Kundschaft anzutreffen, einige deutlich schwule Frisöre lungern auf leeren Sesseln, ein anderer massiert der einzigen Frisörin den Rücken, während diese einer Kundin blonde Strähnen verpasst, und auch am Empfang sind Frauen, gleich drei hübsche Mädchen möchten mich einem der freien Frisöre vermitteln. Auch die Spiegel werden von einer extra dafür angestellten Frau geputzt, sonst ist nicht viel los, auch im oberen Stockwerk, wo inzwischen Víctor alleine arbeitet, dämmert nur ein Kunde vor dem Fernseher, während Percanto die Haare ausgedünnt werden.
(Haare ausdünnen. Das sind so Dinge, die man sich mit handelsüblichen deutschen Haaren kaum vorstellen kann.)
Freundin H. erzählte mir gestern, dass alle Neugeborenen hier sofort nach der Geburt der Mutter weggenommen werden, für die U1, aber auch zum Baden und Anziehen in einem anderen Raum. Außerdem wird allen Neugeborenen sofort der Kopf geschoren – und die kleinen Mädchen bekommen wenige Minuten nach der Geburt Ohrringe verpasst. Das kenne ich noch aus Peru, dort war das Argument, in dem Alter täte es ihnen noch nicht weh. Klar.
H. hat sich (natürlich!) verweigert und musste dafür extra eine Art Einwilligung unterschreiben, dass sie tatsächlich nicht wollte, dass ihrer Tochter nach der Geburt die Haare geschoren werden, und Ohrringe wirklich und wahrhaftig auch nicht. Es haben auch wirklich alle Mädchen und Babypuppen Ohrstecker.
Die Schwiegermutter hat mir heute umständlich erklärt, dass sie Percanto als Baby auch nicht hat kahlscheren lassen, und darum sei er erst blond gewesen und dann dunkel geworden. So ganz versteh ich die Geschichte nicht, zumal Percanto die schwärzstesten Haare der Welt hat. Geschoren wäre er sicher blond geblieben, sicher. Wobei man vielleicht sagen muss, dass „blond“ das meiste ab einem satten Kastanienbraun ist. Auf den Spielplätzen dieser Viertel der oberen Mittelschicht sind aber tatsächlich viele blonde und blauäuige Kinder mit indigen Kinderfrauen, weshalb ich mit meinem Sohn mit seinen Schokokeksaugen und braunen Locken aussehe, als hätte ich mit irgendjemandem die Kinder vertauscht. (Insider für diejenigen, die uns kennen: Die Schwiegermutter fragte mich heute, ob ich (auch nach drei Jahren ohne Sonne noch ziemlich blond) eigentlich noch blonder sei als mein mittelbrünetter Sohn… der braune Haare hat, oder ihr zufolge eben blonde, obwohl er nicht geschoren wurde, oder gerade darum, man weiß es nicht.)
Ansonsten hat heute natürlich „El Secreto de sus ojos“ den Oskar für den besten ausländischen Film gewonnen, alle freuen sich, obwohl es vorher hieß, es sei ein eher flacher Film im Vergleich zu anderen dieses Jahr. Vor etwa einer Woche kommentierte eine Zeitung, wenn der Hauptdarsteller gewänne (der übrigens nicht mit zur Preisvergabe durfte, weil seine Anwesenheit angeblich Pech bringt), wer sollte ihn dann noch ertragen! Nun ertragen sie, und glücklich.
Und schließlich wurde hier wieder eine Bank über ein Tunnelsystem ausgeraubt. Nachdem dies vor kurzem bereits einmal passiert war, titelten alle Zeitungen und Nachrichtensender, das sei der „Raub des Jahrhunderts“. Dieses Mal führte der Tunnel in den Raum mit den Tresoren und privaten Safes, es sind über 200 Safes aufgebrochen und geleert worden und man spricht von einer Beute von etwa 10 Millionen US-Dollar, auch wenn man das nie genau wissen wird. Die Leute sind fassungslos und wütend, besondere Aufmerksamkeit erregt allerdings ein Detail: Die Bankräuber waren so dreist und nervenstark, dass sie innen an die Wand des Tresorraums geschrieben haben: „Dies ist nicht der Raub des Jahrhunderts. Dies ist der Raub des Jahrtausends.“ Ich finde ja, auch das verdient zumindest eine Nominierung für die Oskars, Kategorie „Raub & Überfall“.
Danke für diese täglichen Berichte und wirklich guten Fotos aus einem so interessanten, weil so anderen Land! So bin ich jeden Tag ein paar Minuten in Buenos Aires, auch wenn ich eigentlich zuhause am Schreibtisch sitze.Daß der Prophet im eigenen Lande nichts gilt, zeigt sich auch hier wieder schön an den Reaktionen zum Gewinn des Oscars. Ich habe den Film noch nicht gesehen, aber die Geschichte klingt sehr melancholisch.Gibt es eigentlich (noch?) viele Kinos in Argentinien, und falls ja, sind das eher Filmpaläste oder doch lieblose Schuhschachteln wie bei uns?
Rubia, das war wunderbare Morgenlektüre!Muss immer an Max` Zeit in Chile denken, die Ungeduld, mit der ich morgens nach neuen Blogeinträgen geschaut habe.Der „Bankraub des Jahrtausends“ made my day und entzückt hat mich auch die herrlich unlogische Kopfschergeschichte; ganz ähnliche Anekdoten, die aus dem Genre phanatastischer Realismus zu stammen scheinen, kenne ich von Canarios. Überhaupt begreifen die sich eher als „latinos“ denn als Spanier (oft abfällig als „de la peninsula“ bezeichnet).Denke bei deinen Stadtschilderungen oft sehnsuchtsvoll an Las Palmas, Caracas, ach, andere südliche Großstädte und ihren Geruch; wie riecht Buenos Aires?Saludos von einer falschen, weil gesträhnten Blondine
Löcherstechen bei weiblichen Neugeborenen kenne ich aus Spanien: Auch meine Mutter wurde von der spanischen Verwandtschaft scheel angeschaut, weil sie das bei mir (in Deutschland geborener) nicht hatte machen lassen. Dabei ist eine Konsequenz, dass bei ausgewachsenen Spanierinnen die Ohrlöcher gerne sehr dezentral im Läppchen sitzen.Allerdings ist die Definition von blond ja wohl nachvollziehbar – deshalb kann ich vor der spanischen Verwandtschaft auch mit meinem blonden Mann angeben. Der in Deutschland nicht als blond bezeichnet würde.Das mit dem Haarescheren muss ich nochmal genau durchlesen, sehr mystisch.
Vielen Dank, je. Kiki: Kinos und Theater gibt es meinem Eindruck nach recht viele, zumindest hier in der Ecke, wie viele es im Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl sind, vermag ich nicht zu sagen. Ich war schon in schrammeligen Ein-Saal-Kinos (zum Beispiel innerhalb eines unabhängigen Kulturzentrums, wo ein von Studenten gezeigter Dokumentarfilm gezeigt wurde) und auch in einem großen Kinokomplex, der in eine Art Shopping-Mall mit Schwerpunkt Fressläden integriert ist, dort gibt es halt die üblichen Verdächtigen von Harry Potter bis zum aktuellen „El secreto de sus ojos“.Das mit den Haaren hab ich ehrlich gesagt auch nicht ganz kapiert. Voller sollen sie auf jeden Fall werden, das erklärt natürlich die hiesige Haarpracht, und wie das mit der Farbe ist, da kann ich auch nicht ganz folgen.Und die schiefen Ohrlöcher kenn ich von hier genauso, ja. Die Mitte liegt bei einem Neugeborenen-Öhrchen halt woanders, aber solche Argumente sind ebenso wie Selbstbestimmung oder Körperveletzung irrevelant, weil darüber ja gar nicht diskutiert wird.Suse, ich denke die ganze Zeit drüber nach, wie die Stadt riecht, vielleicht finde ich eine Beschreibung. Das mit den „Guten Lüften“, die zur Namensgebung geführt hatten, ist zumindest im Sommer relativ, die Luftfeuchtigkeit extrem (70-90% die letzten Tage, normal) und bei so vielen Menschen kommt einiges an Geruch zusammen. Aber es ist kein stinkende Großstadt. Ich erkenne bestimmte Putzmittel in Häusern wieder, es riecht natürlich immer mal wieder nach Essen, die U-Bahn haut einem eher Hitze als einen konkreten Geruch ins Gesicht, wenn man hinabsteigt, aber doch hat die Stadt einen spezifischen Geruch, den ich insbesondere in Deutschland sofort erkenne, wenn ich einen Koffer aus Buenos Aires öffne oder ein in Deutschland noch nicht wieder gewaschenes Kleidungsstück in der Hand halte, auch Bücher halten den Geruch recht lange.