40 Tage Buenos Aires [5]


Tag 5, 19. Februar 2010: Regen.
Die Argentinier haben eine gewisse Neigung zum Übertreiben. Sie haben, wie Ihr gesehen habt, eindrucksvolle Buchhandlungen, sie haben in ihrem Land alle Klimazonen, sie haben die südlichste Stadt der Welt (Ushuaia), sie haben die längste innerstädtische Straße der Welt (sagen sie jedenfalls, Avenida Rivadavia, etwa 35km und Hausnummer 1 bis um die 14.000), und die breiteste Straße (Avenida 9 de Julio mit 21 Spuren, mitten in der Stadt) haben sie auch.
Heute hatte ich bereits mittags eine Reihe Fotos zur Auswahl, zum Beispiel Zeitungsstand, Schuhputzer, Graffiti – doch dann kam Wind auf, die Wolken verdichteten sich und es begann zu regnen. Wenn es hier regnet, kann man ungefähr bis 100 zählen, spätestens dann stehen an jeder Ecke junge Mädchen oder dicke Männer mit den Armen voller Regenschirmen: „Hay paraguas, hay paraguas, paraguas…“. So auch heute, ich hatte natürlich keinen Schirm dabei, dachte aber bei den ersten drei oder vier Händlern noch, so wild wird es schon nicht. Außerdem ist bei etwa 37° etwas Regen überaus erfrischend. Es donnerte fern, der Regen verdichtete sich, und schon ab dem fünften Händler brauchte ich keinen Schirm mehr, weil ich bereits vollkommen durchnässt war. Auf der Straße staute sich das Wasser und schäumte in Blasen auf, die Menschen stellten sich unter oder liefen wie ich gleich ohne jeden Schutz weiter, an den Kreuzungen standen die Leute in den Eingängen der Läden oder unter den Markisen, bis die Ampeln umsprangen und sprangen dann selbst über die breiter werdenden Ströme auf der Straße.
Einmal durchs Wasser gezogen kam ich in der Wohnung an, rettete die fortschwimmende Patientenliste vom offenen Fenster und zog mich um. Als ich mit Handtuch um den Kopf auf dem Sofa saß und Fotos sichtete, kam der Onkel nach Hause und stellte den Fernseher an. Mehr Regen. Unmengen von Regen im Fernsehen, zwei Viertel weiter: Die Straßen Flüsse, das Wasser ging den Leuten ohne Übertreibung bis zur Hüfte, sie wurden an über halbwegs sicheren Stellen gespannten Seilen über die Straßen geführt, damit die Strömung sie nicht mitreißt, Kinder wurden in Schlauchbooten über die Kreuzung gefahren, alte Damen von Feuerwehrmännern ans andere Ufer getragen. Schlauchboote auf der Avenida Santa Fe! Die Avenida Santa Fe ist zwei Straßenblöcke entfernt! Mein geheimer Journalisten-Geist erwachte, ich zog wieder meine nassen Kleider und Badelatschen an und zog nochmal mit der Kamera los. Leider ist die Avenida Santa Fe auch eine extrem lange Straße, und die Schlauchboote fuhren auf einem anderen, ziemlich weit entfernten und tiefer gelegenen Abschnitt, während bei uns langsam das Wasserfallrauschen in einen fast normalen Sommerregen überging. Inzwischen war in einigen Vierteln der Strom ausgefallen, die U-Bahnen, Züge und Busse fuhren nicht mehr und es war etwas spät, um noch zu Fuß bis nach Palermo und wieder zurück zu kommen, bevor Baby B ins Bett musste, also bin ich in einem weiteren Regenspaziergang in nassen Klamotten und der Kamera in zwei Plastiktüten nur noch einmal um den Block gegangen und habe meine Fotosafari abgebrochen. Sehr enttäuschend! Wenn es Wasser bis zur Hüfte gibt, ist ein bisschen Blasenregen ziemlich mau.
Die Wohnung ist inzwischen eine Art Rot-Kreuz-Camp, die Tochter des Onkels ist hier gestrandet und die Großmutter ist nach einer Odyssee mit Bussen mit Bugwelle und einem zwischenzeitlichen Asyl in einer Galerie, wo plötzlich das Wasser durch den Fußboden kam, auch bei uns geblieben. Ich habe für alle Spaghetti gekocht, und Percanto ist gerade nochmal mit Taucherbrille losgegangen, um Eis fürs ganze Lager zu holen. Wirklich abgekühlt hat es sich nämlich noch nicht.
Das verhältnismäßig harmlose Bild oben (menno) ist direkt vor unser Haustür aufgenommen, allerdings, was man nicht unbedingt denkt, mitten am Tag. Eine Serie von echten Überschwemmungsfotos gibt es bei der Zeitung El Clarín oder etwas eindrucksvoller im Moment bei La Nacion. (Die Zeitungen aktualisieren sich hier sehr schnell, möglicherweise stimmen die Links schon nicht mehr, wenn Ihr aufgestanden seid.)
Die Argentinier neigen zum Übertreiben. Buenos Aires ist für etwas 15ml Regen pro Stunde ausgelegt, aber heute haben sie es mit 80ml Regen pro Stunde geschafft, die Stadt im Handumdrehen in eine ausgedehnte Version von Venedig zu verwandeln, nur leider ohne Brücken.

8 Gedanken zu „40 Tage Buenos Aires [5]

  1. Ein wirklich schönes Bild, die Stimmung ist sehr gut eingefangen.Hach, schön, ein Blogprojekt zu lesen, bei dem man sich jeden Tag auf etwas Neues freuen kann! Fast wie Adventskalendertürchen! 🙂

  2. Wenn man „Regen Buenos Aires“ googelt, ist der Percanta-Blog Treffer Nr.3. Hier übrigens wieder Schnee! Grüße aus dem Weserbergland! Jule

  3. @Kiki und @giardino: Danke, ja, bisher auch mein Lieblingsbild. Und Kiki, meine Mutter stimmt Dir zu – Adventskalender treffe es. Freut mich!@Jule ich hörte schon. Wie wäre es mal mit Tauen?@Christian: mein Mann ist gerade den vierten von fünf Abenden Tango tanzen gegangen, er folgt glaub ich dem üblichen Rhythmus (Mittwoch La Viruta etc.), wo er heute Nacht ist, weiß ich nicht – aber wahrscheinlich habt Ihr Euch schon gesehen. Er sprach von etwa 40 Leuten (Deutschen und Argentiniern), die er in dieser Woche hier getroffen hat und aus Berlin, Hamburg oder Hannover kennt. Ich war bisher nicht mit – einer muss ja beim Kind bleiben, und dieser eine bin wohl ich.Dein Blog hat gerade etwas viele Audiodateien für mein langsames Internet, später!

  4. Tanz aus Buenos Aires Eines Abends, berauscht von deinen gelbenTodestrauben, Buenos Aires,die du auf von Westen abgekühlten Hängenin herbstliche Sonne hältst, sah ich in den tramontos, dem Sonnenuntergang deine schwarze Alsina-Brücke sich anschmiegenwie ein großes Bandoneon und in seinem Taktbei kargem Licht deinen Tango tanzenauf die kaputten Barkassen des Riachuelo.Seine verseuchten Gewässer, in denen Blutfädenschlängelten, überbordende Höhlen,Blöcke modriger Fabriken,die durch Schlote Atem aus zerstörter Brustausstießen, wiederholten verzerrtständig ihr gequältes Weinen.

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