Johannisbeeren und Zirkus Pauli

Die ersten fünf, fast sechs Jahre meines Lebens habe ich im Süden gelebt, meine Freunde sprachen Dialekt und haben mir das rollende R beigebracht, was für meinen heutigen Beruf nicht unwichtig ist. Eine Freundin hatte einen reimenden Namen (Julia Schmulia*), die anderen waren alle adelig, nämlich die Simone von Schmidts* und der Wolfi von Schumanns* und der Johannes von unten. Vor allem war da Johannes von unten, Johannes war mein bester Freund und meine erste Liebe, obwohl er später nicht mehr so viel mit mir gespielt hat, als er in die Schule ging und Jungensfreunde hatte und ich noch ein kleines Kindergartenmädchen war. Wir sahen aus wie Zwillinge, trugen beide Pilzkopf und große Knieschoner über den Rollschuhen, und unsere Schlümpfe konnten wir auseinanderhalten, weil meine einen schwarzen Punkt unter den Füßen hatten. Als ich als Protestantin vom Sternsingen ausgeschlossen war, ohne dass ich den Grund verstand, haben wir uns verkleidet und sind als die Heiligen zwei Könige durch das Haus gegangen und haben gesungen, bei seinen und bei meinen Eltern. An dem Tag, als ich Fahrradfahren lernte, hat er mich im Rennen gewinnen lassen mit meinem kleinen blauen Rad, und für mich war es ausgemachte Sache, dass wir zusammengehören. Als wir in den Norden zogen, galt mein heftiges Heimweh, das erst gegen Ende der Grundschule nachließ und nur bei fränkisch sprechenden Touristen an der Eisdiele wieder aufflackerte, vor allem ihm.
Meine neuen Freunde aus der neuen Nachbarschaft hat diese Fernliebe sicher irritiert, so wie mein geerbtes Dirndl, das ich genau einmal zusammen mit schwedischen Clogs trug und mir dabei entsetzlich verkleidet vorkam, oder mein nicht lupenreines Norddeutsch. „Kiasche, nicht Kürsche!“ Wenn wir nicht wussten, was wir spielen sollten (außer in der Sandkiste oder Hallihallo oder mit unseren Fahrrädern und Kettcars im Kreis fahren oder mit ganz von alleine kaputt gegangenen Tontopfscherben auf der Straße malen oder Kaulquappen aus dem Graben fischen oder auf Stelzen rückwärts laufen) und wir uns langweilten und keiner mehr Vorschläge machte, dann fragten sie mich, was wir denn gespielt hätten, dort im Süden, und ich konnte auch nicht genau sagen, was der Unterschied war, aber Langeweile konnte ich nicht erinnern. Doch wenn sie Johannisbeeren pflückten, habe ich geweint. Später wollte mich Christian heiraten, der einzige Südamerikaner der Schule, er hat mir erst einen Kaugummiautomatenring geschenkt und dann einen aus sieben Einzelringen bestehenden Silberring seiner großen Schwester (ich habe ihr dann in ihrem Heimatland einen ähnlichen gekauft, nachdem ich gut 20 Jahre später tatsächlich einen Mann von dort geheiratet hatte – und doch nicht meinen Johannes, mit dem ich nur zu Beginn des Studiums noch einmal einen halb gemalten, halb geschriebenen Briefwechsel geführt hatte und seitdem nie wieder Näheres gehört.)
Als ich mit fast sechs Jahren dazu kam, waren die meisten anderen Kinder schon zu zweit, und wir haben dann Dreierallianzen gebildet, ich habe mit MiriundSonja* gespielt und mit FraukeundDaniel. Aber FraukeundDaniel blieben immer mehr FraukeundDaniel als FraukeDanielundPercanta. Das konnte man daran erkenne, dass sie mich zum Beispiel beim Indianerspielen an die Birke bei Daniel im Garten fesselten und dann woanders spielen gingen, während ich als „Kleine Wolke“ am Marterpfahl den Mücken und dem langen Nachmittag ausgesetzt war. Aber Indianer kennen keinen Schmerz und ich habe mich nicht beschwert.
In einem Sommer aber haben wir zu dritt einen Zirkus gegründet, Zirkus Pauli war unser großes gemeinsames Projekt, so ähnlich wie Eva-Lotta und Anders und Kalle Blomquist, und wir haben geübt und Plakate gemalt und Handzettel in die Briefkästen gesteckt, wir haben Stühle in den Garten gestellt und einen Vorhang zwischen die Birken gespannt, wir haben 20 Pfennig Eintritt genommen und schließlich waren alle Nachbarn aus der Sackgasse in unseren Garten gekommen. Frauke, die eine Brille hatte und die Älteste war, war Zirkusdirektor, und ansonsten waren alle alles. Geturnt wurde am Klettergerüst, mit mörderischen Absprüngen von der Schaukel und vom oberen Balken der Leiter, zu den Akrobaten gehörte auch eine kompliziert choreographierte Übung mit mehreren auf dem Boden liegenden Reifen, bei der wir viele Brücken machten. Außerdem gab es eine schöne Tiernummer mit einem Pferd, das zwei Beine von Frauke und zwei von Daniel hatte und eine nach Stall riechende Decke und einen Steckenpferdkopf, und ich führte es mit einer Gerte und in den Reiterstiefeln meiner Mutter im Kreis herum. Das war bestimmt ganz famos, wie Eva-Lotta gesagt hätte. Da Frauke Sportgymnastin war, ich in jener Zeit beharrlich daran arbeitete, auf Händen so gut zu gehen wie auf Füßen, und sich Daniel mit dem verzweifelten Ehrgeiz des einzigen Jungen der Gruppe ins Radschlagen gestürzt hatte, war die Akrobatennummer vielleicht gar nicht so schlecht, nicht für Grundschüler jedenfalls. Legendär geworden sind aber die Zauberer, die keine Zeit und Geduld gehabt hatten, aus den Zauberbüchern Tricks vorzubereiten und sich darum auf die Präsentation eines Chapeau-claques beschränkten, und die sehr lustigen Clowns, die wahnsinnig komisch hinter dem Vorhang hervorstolperten, an ihren Kleidern, Perücken und Nasen zupften, die Fußspitzen nach innen drehten und dann unter dem, nun ja, donnernden Applaus wieder aus der Manege verschwanden.
Aufgrund des großen Erfolgs machte die Zirkuscompagnie ihre Drohung wahr und trat im folgenden Sommer wieder auf. Dieses Mal konnten die kleinen Brüder nicht mehr beide im Laufstall als wilde Raubkatzen präsentiert und dadurch aus den Proben herausgehalten werden, so dass Bruder #1 einen sensationellen Gastauftritt bekam: Mit einem roten Sturzhelm und meinen alten Rollschuhknieschonern drehte er wie der Blitz auf dem gelben Dreirad mit schwarz-weiß-kariertem Formel-1-Sattel eine Runde um die Manege. Niki Lauda im Zirkus! Das war wirklich unerhört.
Irgendwann nach dem Schlussapplaus hat sich auch die Verbindung zwischen uns dreien gelöst. Die Artistin und Zirkusdirektorin hat Sport studiert, der Zauberer hat heute zwei Kinder
und Niki Lauda neuerdings ein Motorrad. Johannisbeeren sind nicht mein Lieblingsgemüse, und ich denke bei ihrem sauren Geschmack zwar immer an das moosige Gartenstück hinter dem Haus, wo der Johannisbeerstrauch steht, weinen muss ich jedoch nicht mehr. Wenn wir aber eine dilettantische Moderation sehen, eine beschämend laienhafte Darbietung auf viel zu großer Bühne, ambitioniertes Schauspiel oder Musizieren Erwachsener mit wenig Talent aber Publikum, dann seufzen wir und sagen „Zirkus Pauli“.



*Name von der Redaktion geändert, aber baugleich.

8 Gedanken zu „Johannisbeeren und Zirkus Pauli

  1. Wie Du Dir vielleicht denken kannst, habe ich beim Lesen von „Zirkus Pauli“ im Titel Deines Blogartikels an fußballartistische Bespassung am Millerntor denken müssen. Doch was mich gerade eben, während des Lesens der dem Titel folgenden Zeilen erwartete, war ein ganz wunderbarer Rückblick auf das Andauern von Eindrücken und Erinnerungen an die frühe Kindheit und Jugend, die weit über profane Dinge wie Fußball hinausgeht und für die ich Dir ausdrücklich danken möchte.

  2. @isabo Hallihallo war eine Art Brennball ohne Parkour, wenn ich mich richtig erinnere. „Hallihallo“ wurde gerufen, ein Ball flog durch die Luft und wir rannten herum. Genau weiß ich es leider nicht mehr, und ich habe auch den Verdacht, dass die älteren Kinder die Regeln manchmal geändert haben. Calvinball war es aber noch nicht. Den Briefwechsel muss ich vielleicht mal suchen und separat was zu bloggen. Gehört zu den schönsten Briefen, die ich je bekam, Kunstbriefe. @Markus vielen Dank! Freut mich sehr. @Gerd ebenfalls vielen Dank!

  3. Liebe PercantaSie werden von uns eine Anfrage für die Blogbibliothek bekommen: Dieser Text ist wunderbar. Er versetzt den Leser in eigene Kindheitserinnerungen, und macht das zur Sensation, was Kinderaugen und -gefühle dazu machen können: das Alltagserlebnis, das selbstvergessene Spiel.

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