„Sein Vater ist seit 30 Jahren tot, und er vermisst ihn immer noch“, sagte die Frau in dem Film über den Mann auf dem Sofa, „er war die wichtigste Person in seinem Leben.“ Und sie gucken ein wenig konsterniert, gucken wie „rührend irgendwie, das mit dem Vermissen, aber hey, 30 Jahre“.
Ich habe keine Ahung, worum es ging, wer die Figuren waren und welche Schauspieler sie darstellten. Aber gehalten hat sich mein Unverständnis angesichts des Unverständnisses der Frau, angesichts des betonten „immer noch“.
Der wichtigste Mensch ist keine Kategorie, die ich besonders mag, so wie ich auch das Bibelwort „Darum wird ein Mann seine Mutter und seinen Vater verlassen, und seinem Weib anhangen“ nicht mag. Ich will mich nicht entscheiden müssen, wer wichtiger ist, der Ehemann oder die Eltern, der Vater oder die Mutter (und wir hatten uns als Kinder schaudernd überlegt, wie wir entscheiden würden, müssten wir entscheiden, zu wem würdest DU gehen, wenn Mutti und Papi sich scheiden ließen?, aber wir waren sicher, dass sie es nicht tun würden, dass wir es durchspielen könnten, weil es Spiel bliebe; bei den Überlegungen, wie ich meinen Bart tragen würde, wäre ich ein Mann und bekäme ich einen, habe ich das Hypothetische der Prämisse mal vergessen, bei diesem Beraten und Abwägen vergaßen wir es nie), nein, nicht entscheiden, ob Vater oder Mutter, nicht welcher der Brüder, nicht ob die Tochter, die Mutter oder die Großmutter mehr zu lieben sei.
Ich glaube, meine Mimi hat ihre älteste Tochter ihr Leben lang vermisst, und sie wird auch ihre Mutter vermisst haben, auch nach 25 Jahren noch. Und ich weiß, dass ihre zweite Tochter, die älteste der lebenden und meine Mutter, sie vermisst, und auch ich vermisse sie. Wir reagieren inzwischen seltener falsch, ich wähle zum Beispiel nicht mehr ihre Nummer, wenn ich traurig bin, und muss dann nach drei oder vier Zahlen auflegen, wenn ich es merke, und ich will auch nicht mehr ihrer Freundin sagen, was sie ihr erzählen soll, weil ja vielleicht wenigstens sie noch Kontakt hat. Trotzdem bin ich der Mann auf dem Sofa, und ich tropfe auch nach 6 Jahren noch auf den Schreibtisch und wusste den ganzen Tag nicht, was schreiben und was zu Mutti sagen, obwohl wir fast eine Stunde telefoniert haben und ich wusste, dass der vierte Juli war.
In der Nacht, als sie starb, kam erst der Anruf, sie habe einen Herzinfarkt, sie sei im Krankhaus, und die Stimme meines Vaters, und dass es mein Vater war, und um diese Zeit. Ich habe im Bett gesessen und den winzigen Holzengel angeschaut, ein kleiner, flacher Engel im weißen Hemd, an einem Band mit Glöckchen, ich glaube nicht an Engel, auch nicht an hölzerne, aber sie hatte ihn mir geschenkt, den Engel, an einem Weihnachtsgeschenk hängend, nun hing er an meinem Bett und ich habe ihn angeschaut, fest, und immer wiederholt: nicht, nicht, nicht, nicht. Bitte nicht, bitte, bitte, bitte nicht. Er hat es nicht geschafft, sie hat es nicht geschafft.
Es ist sechs Jahre her, und gestern Nacht sprang mich der Schmerz wieder genauso an, direkt in den Hals, und natürlich vermissen wir sie, was sollen wir denn sonst tun.
Ein paar Monate später kam Percanto nach Deutschland, dann sind wir umgezogen. Das Engelchen hängt noch immer an meinem, an unserem Bett, und ihre letzte Postkarte steht dort, wir konnten nicht wissen, dass es die letzte Postkarte sein würde, und untypischerweise zeigt auch sie Engel. Sie steht seit 6 Jahren dort, und irgendwann habe ich gemerkt, dass der Teil, der über die wechselnden Bücher ragt, ausgeblichen ist vom Tageslicht, die Schrift fast vollständig verschwunden, nur an den Enden der Wörter waren noch Punkte zu sehen, wo sich die Tinte gesammelt hatte. Ich weiß, was dort stand, wenn man die Karte schräg halt, konnte man es erraten, also habe ich es abgeschrieben auf einen Klebezettel und ihn über die obere Hälfte geklebt, als Lichtschutz. Ich hätte die Karte rahmen sollen, spätestens dann. Ich hätte den Text hinten auf den Rahmen schreiben sollen. Ich hätte die verbliebenen Wörter vor dem Licht schützen sollen. Aber ich konnte mich nicht auch noch vom unteren Teil trennen, von ihrer Handschrift, ihrem Namen, Alles Liebe Deine Mimi.
Darum sind nun auch die letzten vier Zeilen bleich und fast verschwunden, aber ich konnte sie nicht wegsperren und schon jetzt vermisse ich auch sie.
Ich habe keine Ahung, worum es ging, wer die Figuren waren und welche Schauspieler sie darstellten. Aber gehalten hat sich mein Unverständnis angesichts des Unverständnisses der Frau, angesichts des betonten „immer noch“.
Der wichtigste Mensch ist keine Kategorie, die ich besonders mag, so wie ich auch das Bibelwort „Darum wird ein Mann seine Mutter und seinen Vater verlassen, und seinem Weib anhangen“ nicht mag. Ich will mich nicht entscheiden müssen, wer wichtiger ist, der Ehemann oder die Eltern, der Vater oder die Mutter (und wir hatten uns als Kinder schaudernd überlegt, wie wir entscheiden würden, müssten wir entscheiden, zu wem würdest DU gehen, wenn Mutti und Papi sich scheiden ließen?, aber wir waren sicher, dass sie es nicht tun würden, dass wir es durchspielen könnten, weil es Spiel bliebe; bei den Überlegungen, wie ich meinen Bart tragen würde, wäre ich ein Mann und bekäme ich einen, habe ich das Hypothetische der Prämisse mal vergessen, bei diesem Beraten und Abwägen vergaßen wir es nie), nein, nicht entscheiden, ob Vater oder Mutter, nicht welcher der Brüder, nicht ob die Tochter, die Mutter oder die Großmutter mehr zu lieben sei.
Ich glaube, meine Mimi hat ihre älteste Tochter ihr Leben lang vermisst, und sie wird auch ihre Mutter vermisst haben, auch nach 25 Jahren noch. Und ich weiß, dass ihre zweite Tochter, die älteste der lebenden und meine Mutter, sie vermisst, und auch ich vermisse sie. Wir reagieren inzwischen seltener falsch, ich wähle zum Beispiel nicht mehr ihre Nummer, wenn ich traurig bin, und muss dann nach drei oder vier Zahlen auflegen, wenn ich es merke, und ich will auch nicht mehr ihrer Freundin sagen, was sie ihr erzählen soll, weil ja vielleicht wenigstens sie noch Kontakt hat. Trotzdem bin ich der Mann auf dem Sofa, und ich tropfe auch nach 6 Jahren noch auf den Schreibtisch und wusste den ganzen Tag nicht, was schreiben und was zu Mutti sagen, obwohl wir fast eine Stunde telefoniert haben und ich wusste, dass der vierte Juli war.
In der Nacht, als sie starb, kam erst der Anruf, sie habe einen Herzinfarkt, sie sei im Krankhaus, und die Stimme meines Vaters, und dass es mein Vater war, und um diese Zeit. Ich habe im Bett gesessen und den winzigen Holzengel angeschaut, ein kleiner, flacher Engel im weißen Hemd, an einem Band mit Glöckchen, ich glaube nicht an Engel, auch nicht an hölzerne, aber sie hatte ihn mir geschenkt, den Engel, an einem Weihnachtsgeschenk hängend, nun hing er an meinem Bett und ich habe ihn angeschaut, fest, und immer wiederholt: nicht, nicht, nicht, nicht. Bitte nicht, bitte, bitte, bitte nicht. Er hat es nicht geschafft, sie hat es nicht geschafft.
Es ist sechs Jahre her, und gestern Nacht sprang mich der Schmerz wieder genauso an, direkt in den Hals, und natürlich vermissen wir sie, was sollen wir denn sonst tun.
Ein paar Monate später kam Percanto nach Deutschland, dann sind wir umgezogen. Das Engelchen hängt noch immer an meinem, an unserem Bett, und ihre letzte Postkarte steht dort, wir konnten nicht wissen, dass es die letzte Postkarte sein würde, und untypischerweise zeigt auch sie Engel. Sie steht seit 6 Jahren dort, und irgendwann habe ich gemerkt, dass der Teil, der über die wechselnden Bücher ragt, ausgeblichen ist vom Tageslicht, die Schrift fast vollständig verschwunden, nur an den Enden der Wörter waren noch Punkte zu sehen, wo sich die Tinte gesammelt hatte. Ich weiß, was dort stand, wenn man die Karte schräg halt, konnte man es erraten, also habe ich es abgeschrieben auf einen Klebezettel und ihn über die obere Hälfte geklebt, als Lichtschutz. Ich hätte die Karte rahmen sollen, spätestens dann. Ich hätte den Text hinten auf den Rahmen schreiben sollen. Ich hätte die verbliebenen Wörter vor dem Licht schützen sollen. Aber ich konnte mich nicht auch noch vom unteren Teil trennen, von ihrer Handschrift, ihrem Namen, Alles Liebe Deine Mimi.
Darum sind nun auch die letzten vier Zeilen bleich und fast verschwunden, aber ich konnte sie nicht wegsperren und schon jetzt vermisse ich auch sie.
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Ich hab meine Mama noch, und muss trotzdem mitheulen.
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„Solange wir uns an geliebte Menschen erinnern, sind sie nicht tot.“ Dieser Spruch steht sinngemäß (der genaue Wortlaut fällt mir doch jetzt tatsächlich nicht ein) auf einem alten Grabstein und ist mir jedes Mal ein Trost, wenn ich auf dem Weg zum Grab meiner Eltern daran vorbei komme.
Oh wie schön. Und wie traurig.