Bitte nicht stören!

Letzter Tag im Semester, Klausuraufsicht. An der Tür ein großes, farbiges Schild: „PRÜFUNG! Bitte nicht stören!!“ Gut 40 gebeugte Köpfe. Schreibende Hände, streichende Hände, rote Wangen. Mehr Papier, bitte. Blättern im Wörterbuch. Der junge Mann in der Ecke überprüft, ob auf seinem Unterarm etwas Brauchbares notiert ist. Wie lange noch?
Noch 10 Minuten.
Einige geben ab.
Noch 5 Minuten.
Die Tür geht auf, eine ältere Dame mit blauer Handtasche und blauem Hut kommt herein.
Ich gucke sie an.
„Wer zur Prüfung kommt, muss mitschreiben. Wir sind hier noch nicht fertig.“
„Hm?“
Sie stellt ihre Handtasche auf einen der Tische in der ersten Reihe, direkt neben den Prüfungsbogen der dort sitzenden Studentin. Mallorca-Gefühle.
„Bitte warten Sie draußen! Wir schreiben hier eine Prüfung und sind noch nicht fertig!“
„Ach?“
Hinter ihr drängen weitere silberhaarige Herrschaften in den Raum.
„Bitte. warten. Sie. draußen.“
„Ah. Aber meine Tasche, die kann ich doch schon mal hierlassen, ja?“
„Äh? Ja. Aber! Verlassen Sie bitte den Raum und warten Sie draußen! Jetzt! Alle! Und machen Sie die Tür wieder zu! Wir haben hier Prüfung!“
Die älteren Damen und Herren raffen – mit Ausnahme der blauen Handtasche für den guten Platz gleich – ihr Zeug zusammen und begeben sich umständlich wieder zur Tür heraus. Tür zu.
Keiner schreibt mehr, alle gucken mich an, einige lachen. „Universität des dritten Lebensalters. Die haben es immer so eilig.“ Dann beugen sie sich wieder über ihre Bögen.
Noch 3 Minuten.

Mit Bleistift denken

Isa erzählt ein bisschen von Zwischenstationen auf dem Weg zu ihrem Beruf als Literaturübersetzerin. Vor allem aber zeigt sie uns dabei ein altes, gründlich bearbeitetes Blatt, eine Manuskriptseite, auf welcher der Ausgangstext von den Anmerkungen, Übersetzungsüberlegungen und Pfeilen völlig umrankt und überwuchert wird. (Unlesbar war er vor dieser gründlichen Bearbeitung auch schon, für mich jedenfalls.) Wunderschön. Ich liebe solche Skizzentextblätter. Einmal habe ich mir von einer Studentin das Blatt mit ihren vielfarbigen Überlegungen um ein zu interpretierendes Gedicht herum schenken lassen, einfach weil ich dieses gekritzelte Denken so gerne anschaue. Schön.

Lernen

Ich habe einen Doktortitel, der mir noch nicht aberkannt wurde. Ich habe eine Prüferlizenz für die Zentrale Mittelstufenprüfung Deutsch und eine Zulassung als Master-Prüferin. Ich könnte Euch Flattervögel erklären, Mürbeteig, spanische Versschlüsse oder interne Fokalisierung bei heterodiegetischer Erzählinstanz. Und jetzt lerne ich Stricken. Und übe Demut.
Wie kam man überhaupt darauf, dass Stricken funktionieren könnte?
Ich gehe wieder aufribbeln. Und fange von vorne an. Demut.

Von der Flüchtigkeit des Wortes. Und des Ruhmes.

Wie im Radsport werden übrigens auch in der Wissenschaft im Allgemeinen und von Doktorarbeiten im Besonderen die B-Proben nicht sofort untersucht, sondern für einen späteren Zeitpunkt aufbewahrt, wenn die Methoden der Doping-Ermittler zu denen der Betrüger aufgeschlossen haben. Nicht dass Sie in 33 Jahren sagen, Sie hätten das nicht gewusst.

The Next Big Thing Blog Hop (einfacher vielleicht: „Buchschreibestöckchen“)

Ein Stöckchen. Es gibt noch Stöckchen! Dieses Buch-Schreibe-Stöckchen habe ich von Isabel zugeworfen bekommen, Autorin von Sachen machen, die es wiederum von Pia Ziefle hat, der Autorin von Suna. Und darum geht es, um das Schreiben und neue Buchprojekte.
Ich bin nun keine Autorin, aber ein Buch schreibe ich trotzdem, und worum da es eigentlich geht, möchte Isabel nun also von mir wissen. In den folgenden 10 Fragen:

Was ist der Arbeitstitel Ihres Buchs?
Das Großprojekt.
So heißt es jedenfalls in meinen Dateien und Ordnern. Es hat auch noch einen anderen Arbeitstitel, aber dazu später.

Woher kam die Idee für das Buch?
Ich habe nach einer Idee gesucht, ich habe dann sehr kurzfristig für eine Bewerbung eine gebraucht und mich einen Abend mit Kolleginfreundin A. in eine Kneipe gesetzt und nachgedacht und diskutiert, die Kolleginfreundin ist sehr gut im Ideen für Bücher entwickeln. Am Ende des Abends hatten wir zwei Ideen, von denen ich eine ausformulierte und einreichte. Sie wurde abgelehnt, ein Jahr lang dachte ich dennoch an dieser Idee herum, las und skizzierte, und dann las ich anderes und kam von der Idee ab und über den Roman Kamchatka irgendwie auf mein neues Thema. Und diese neue Idee verfolge ich nun. (Erst ein Jahr über was anderes nachdenken, das mache ich immer so. Keine gute Technik.)

Unter welches Genre fällt Ihr Buch?
Qualifikationsschrift. Oder Fachbuch.

Wie lautet die Einsatzzusammenfassung Ihres Buches?
[Eine was? „Kann ich bitte eine Zusammenfassung des gestrigen Einsatzes bekommen“, fragte der Vorgesetzte den Polizeibeamten. „Natürlich, ich lege den Bericht nachher auf Ihren Schreibtisch.“]
Die eigentlichen (Arbeits-)Titel von solchen Büchern sind ja meist sperrige Einsatzzusammenfassungen. Ein-Satz-Zusammenfassungen. Eine nicht ganz titelfähige, aber immerhin sperrige Zusammenfassung in einem Satz wäre vielleicht: In einigen Romanen aus Europa, Lateinamerika und Afrika, die Ereignisse der Zeitgeschichte thematisieren, wird als Erzählinstanz ein Kind konstruiert – warum eigentlich, wie wird das gestaltet und welche Funktionen hat das?

Welche Schauspieler sollten Ihre Charaktere in einer Filmumsetzung spielen?
Oh, Fachbücher werden ja viel zu selten verfilmt. Für die Rolle der heterodiegetischen Erzählinstanz mit interner Fokalisierung wähle ich Javier Bardem und  für die homodiegetische Erzählinstanz Christoph Waltz. Den Tod des Autors könnte vielleicht Woody Allen überzeugend darstellen, für die Diskussion zwischen (Neo-)Realismus und Experimentellem Schreiben würde ich gerne Anneke Kim Sarnau und Susanne Lothar gewinnen, was natürlich ein Problem ist. Für den historischen Abriss komme ich wohl um Guido Knopp nicht herum. Den Teil lasse ich dann vielleicht doch lieber weg.

Werden Sie Ihr Buch selbst verlegen oder wird es vertreten durch einen Agenten?
Weder noch. Ich würde mir einen Verlag suchen. Und auf eine Finanzierung hoffen.

Wie lange haben Sie gebraucht, um den ersten Entwurf Ihres Manuskripts zu schreiben?
Verbotene Frage! Der Zeitplan hängt am Regal neben dem Schreibtisch und ist jetzt schon Makulatur. (Das Exposé ging sehr schnell, der Rest ist Lebenszeit. Nicht nur meine.)

Welche anderen Bücher würden Sie mit Ihrem Genre vergleichen?
Mein Erstling, die Dissertation. Und all diese Titel, die gerade Politiker um ihre Titel bringen. Hier aber: alles ganz redlich. Natürlich.

Was sonst über Ihr Buch könnte das Interesse des Lesers wecken?
Oh, wissenschaftliche Qualifikationsschriften werden meist ganz von alleine Bestseller. Von meiner Dissertation [2010] sind regulär glaube ich schon zwei Exemplare verkauft worden. Was könnte helfen? Urzeitkrebse vielleicht?

Möchten Sie andere Autoren für das Interview nominieren?
Gerne. Die meisten haben das Stöckchen aber schon; warum sonst wäre ein Autorenstöckchen inzwischen bei mir gelandet. Wie sieht es denn noch mit Mek aus? Wurde da nicht auch mal von einem Buchprojekt gemunkelt? Und Kassandra. Dankeschön.

Hier liegen meine Gebeine…

… ich wollt‘, es wären Deine.
Am Totensonntag machten wir, ohne die Korrelation weiter zu bedenken, einen Spaziergang auf dem schönen Stadtfriedhof. Da er stillgelegt ist (ist das der richtige Ausdruck für Friedhöfe? „Die Ruhestätten sind stillgelegt“? Weil vorher so ein Remmdemmi war?), wird er inzwischen Friedpark statt Friedhof genannt, und es ist wirklich ein ansehnlicher und sehr großer Park. Wir bummelten, lasen Grabinschriften, schauten nach Familie und nach stadtbekannten Namen. Im Nobelpreis-Viertel, wo die Nobelpreisträger Seite an Seite um einen kleinen See herumliegen und sich in bester Gesellschaft fühlen oder aber alte Konkurrenz weiter pflegen dürfen, fanden sich ein paar außergewöhnliche Grabsteine. Ästhetisch bestachen die Nobel-Steine vor allem durch Schlichtheit und teilweise modernistische Schriftgestaltung. Besonders interessant waren die von Max Planck und Otto Hahn: Der Physiker und der Chemiker haben außer ihren Namen nur eine Formel auf ihren Steinen – ich kann sie aber nicht lesen. Vielleicht ein mitlesender Naturwissenschaftler, oder jemand, der sich besser an Physik erinnert als ich? Stehen dort ihre Lebensdaten? Ist es die Zusammenfassung ihres wissenschaftlichen Lebenswerkes? Und weist der Pfeil auf Otto Hahns Stein auf Hahn selbst, oder auf das, was von ihm blieb?

Formel Max Planck

 

 

Formel Otto Hahn

In unmittelbarer Nachbarschaft der Nobelpreisträger fand sich auch ein Mediziner mit seiner Frau. Ihr Stein trägt ihre Namen in ihrer Handschrift, darüber ziert ihn eine etwas richtungslose Zackelinie – was ist das? Ein Bergmassiv, wo der Herr Doktor gerne in der Sommerfrische weilte? Oder ist es wie bei den Wissenschaftlern nebenan ein Ausdruck seines Berufslebens, eine Grafik, die in Bezug zu seinem Wirken als Arzt steht? Den Grabstein in seiner eigenen Handschrift zu beschriften zeugt bei einem Arzt ja schon von einem gesteigerten Sinn für Humor. Zu übertreffen wäre das vielleicht noch von einer individuellen EKG-Kurve, die in quer über den Stein läuft – nach ein oder zwei Ausschlägen als Nulllinie.

Fremdsprachen [oder: Wie wir uns bei Bauchentscheidungen mit vermeintlichen Vernunftgründen selbst in die Tasche lügen]

Beim Übergang auf das Gymnasium musste ich entscheiden, ob ich als zweite Fremdsprache Französisch oder Latein lernen wollte. Verschiedene Aspekte beeinflussten meine Entscheidung, ohne dass ich sie wirklich reflektiert hätte – nicht ohne Wirkung waren aber sicherlich der im Nachbarhaus wohnende Lateinlehrer, familiäre Traditionen und das mit vorfreudiger Begeisterung einhergehende bildungshungrige Gefühl, Latein zu können wäre irgendwie cooler als Schüleraustausch mit Aix en Provence.
Tatsächlich als Argumente verstand und vertrat ich anstelle dieser diffusen Gefühligkeiten aber dies: Ich wählte Latein statt Französisch, weil ich fand, dass Franzosen bekloppt zählen. Quatre-vingts? Vier mal zwanzig?! Ihr sagt im Ernst vier mal zwanzig? Eine Sprache mit solchen Zahlen wollte ich nicht lernen. Die mithin ganz vernünftige und rationale Entscheidung gegen Französisch und für Latein traf ich MCMLXXXIX.

Literatur

„Viví en pensiones o piezas pequeñas y trabajé en cualquier cosa mientras terminaba la universidad. Y cuando terminé la universidad seguí trabajando en cualquier cosa, porque estudié Literatura, que es lo que estudia la genta que termina trabajando en cualquier cosa.“

[Ich wohnte in Pensionen oder kleinen Zimmern und hatte irgendwelche Jobs, während ich die Universität beendete. Und als ich die Universität beendet hatte, hatte ich weiterhin irgendwelche Jobs, denn ich habe Literatur studiert, und das studieren die Leute, die am Ende dann irgendwelche Jobs haben.]

(Alejandro Zambra: Formas de volver a casa. Barcelona: Anagrama 2011, S. 87.

Sehr schöner chilenischer Roman, den ich heute ausgelesen habe. Und als ich mir gerade  mit einer chilenischen Dichterin schrieb und ihr davon erzählte, sagte sie, der Roman sei „re bueno“ und der Autor „simatiquísimo“, und übrigens sei er kürzlich bei ihr gewesen, und sie seien befreundet. Natürlich, Chile, Du verrückte lange Anthologie.)