40 Tage Buenos Aires [34]

Tag 34, Samstag, 20. März 2010: Rollergirls, Av. Corrientes.

An manchen Tagen läuft fast alles anders als geplant. Da heute die Schwiegermutter da und mit Mann und Kind auf dem Spielplatz war, bin ich alleine losgezogen und war am Puerto Madero zum Fotografieren. Es waren auch gute Motive, halbwegs vernünftiges Licht und Lust vorhanden, es sind auch einige brauchbare Bilder dabei, nur hat bei mir am Ende wie immer Architektur wenig Chance gegen Menschen. Auf dem Weg zum Hafen bin ich in einen aufwendigen Filmdreh geraten; ich hatte schon die Konfetti im Rinnstein fotografiert, als ich merkte, dass die gesamte Avenida Corrientes jenseits der 9 de Julio gesperrt war, ein Kamerakran und riesige Beleuchtungsanlagen schwebten über der Straße. Und auf dem Asphalt etwa 50 gleich (knapp) gekleidete Mädchen mit weißblonden Perücken und silbernen Pompons, die wieder und wieder ordentlich in drei Reihen die Corrientes herunterrollten, den Obelisken im Rücken, ein strahlendes Lächeln im Gesicht und die Pompons in der Luft. Ich hab mich eine Weile mit einem sich wichtig machenden Mitglied des Filmteams geredet, der am Rand herumstand und mich auch in die abgesperrte Zone gelassen hat, „ein Fotograf muss frech sein“, meinte er augenzwinkernd, die zentral aufgenommen Bilder finde ich allerdings wie erwartet langweilig. Das Ganze wird ein Werbefilm für die Kaugummimarke Trident, ich soll ihn dann mal im Internet suchen.
Dann ein Hafenrundgang auf den edel hergerichteten Docks – als ich vor neun Jahren hier war, waren im äußersten Teil auf der Höhe von San Telmo noch verfallene Lagerhäuser, das fand ich ja reizvoller, nicht nur für die Fotografenseele. Puerto Madero hatte ich immer für den alten Holzhafen gehalten, von madera = Holz, auch wenn das grammatikalisch noch nie hinkommen konnte, es stimmt auch nicht. Madero war einfach der Name des Architekten, der den Hafen Ende des 19. Jahrhunderts entworfen hat. Kaum war er fertig, wurde allerdings für inzwischen deutlich größere Schiffe ein größerer Hafen gebraucht, und das Vierte verfiel. Seit etwa 20 Jahren wird die Hafengegend nun modernisiert, in den edel renovierten alten Lagerhallen sind teure Restaurants untergebracht, im Hafen angesagte Diskotheken und Yacht-Clubs, dahinter entstehen mal wieder Hochhäuser, hier in der Luxusvariante und voll verspiegelt. La Boca ist der pintoreske Hafen der Armen, Puerto Madero das neue Reichenviertel direkt am Río de la Plata. Sogar das Eis der Kette „Freddo“ ist in der Filiale hier noch einen Peso teurer als im schon gut betuchten Viertel Recoleta.
Die Straßen tragen hier alle Frauennamen, eine weiße und etwas pieksig nach oben geschwungene Fußgängerbrücke, die die Richtung Stadt gelegenen Docks mit der Hochhaus-Wohngegend am Fluss verbindet und „Wahrzeichen, Wahrzeichen“ zu rufen scheint, heißt auch „puente de la mujer“, Fauenbrücke.
Auf dem Rückweg höre ich noch eine Weile Straßenmusikern zu und versuche wieder mal vergeblich, in Chile anzurufen. Schließlich hocke ich eine kleine Ewigkeit auf dem Platz vor dem Justiztpalast auf dem Pflaster und versuche Blattschneideameisen bei der Arbeit zu fotografieren, was aber vor allem eine langwierige und nicht befriedigend endende Auseinandersetzung mit dem Autofokus im Makro-Modus ist. Ich habe nun einige von der Tiefenschärfe her interessante Bilder von den Fliesen auf Plaza Lavalle, sie sehen in Nahaufnahme fast wie das Holocaust-Mahnmahl in Berlin aus. Nach einigen halbwegs erwischten Ameisen gebe ich auf, bevor mir noch die Kamera abhanden kommt; auf dem Platz sind regelrechte Behelfs-Siedlungen aus Planen entstanden, in einigen dieser Zelte wohnen ganze Familien, und einige der Halbobdachlosen beobachten seit einiger Zeit die bekloppte Blonde, die vor dem Baum hockt und den Fußboden fotografiert.
Dann wollen wir nochmal gemeinsam los, im Parque Rivadavia soll ein Tanz-Spektakel stattfinden, das wir uns anschauen möchten. Es soll um 18 Uhr losgehen, als wir um kurz nach sechs aus dem Bus steigen, ist der Park zwar voll und sehr belebt, aber von einer Show keine Spur. Nur vier deutlich übergewichtige Damen in Leggings üben auf einer Rasenfläche in einer Reihe hintereinanderweg Spreizsprünge, das ist als absurdes Tanztheater schon ziemlich gut, aber doch nicht das Angekündigte.
Wir streifen ein bisschen um die antiquarischen Buchstände und fliegenden Händler um den Park herum, fragen nach dem Tanz, aber keiner weiß etwas, anscheinend ist die Show ausgefallen. Dafür gehe ich am Abend noch ins Theater, „Antígonas“ von Alberto Muñoz im Kulturzentrum Floreal Gorini gleich um die Ecke. Der Saal ist klein und die Aufführung mäßig besucht, ich habe die vorletzte siebte Reihe ganz für mich allein. Das Stück habe ich etwas zufällig ausgesucht (eigentlich wollte ich in die Oper, aber das würdevolle Teatro Colón wird erst am 25. Mai neu eröffnet, und die Aufführungen von Aida und Turandot in der anderen Oper sind nur Übertragungen aus New York, auf Großleinwand, das hab ich dann doch nicht gemacht), es entpuppt sich als Zwei-Personen-Stück. Zwei Frauen spielen vier mal zwei Frauen in unterschiedlichen Situationen. Leider wird mir zu wenig gespielt und zu viel Dialog gesprochen, es passiert einfach nichts. Zudem steht das Stück für mich schnell unter Esosterik-Verdacht, es geht immer um irgendwas Besonderes in der Wahrnehmung der Frauen, was aber nicht recht benannt werden kann. Bei der dritten Szene gefällt mir die visuelle Umsetzung, die beiden Frauen – in diesem Moment Schwestern – sitzen auf einer Art Wipp-Brett, das sie selbst bewegen und mit Unterstützung von zwei Stöcken als Riemen so ein Ruderboot in den Wellen darstellen. In der vierten Szene mag ich den Text eines Dialogs, in dem eine Patientin und eine Therapeutin gegeneinander rezitieren. Erst unterhalten sie sich über Beipackzettel, die mit Literatur analog gesetzt werden („der Schluss ist immer der gleiche“), am Ende der Szene sagt die Patientin Beipackzettel auf und die Therapeuting spricht gleichzeitig Gedichte dazu, das wird gut.
Ansonsten muss ich mich aber der Frau der ersten Szene anschließen, die zu einer Schönheitskur will und einer mystisch-religiös-erweckten Behandlung unterzogen wird, Gott sei für die Männer, aber Christus, Christus sei für die Frauen. „Ich will das hier nicht, ich bin für etwas anderes gekommen“, jammert sie, und die andere erwidert: „Wir alle sind für etwas anderes gekommen“, und dem musste ich zustimmen.

Zum Abschluss noch ein Gegenentwurf zu den Dutzenden bonbonfarbener uniformierter Rollergirls, eine junge Frau auf den Stufen des Justizpalasts „Tribunales“.
Und morgen fahre ich aufs Land.

40 Tage Buenos Aires [33]

Tag 33, Freitag, 19. März 2010: Sifones (Soda-Macher) in San Telmo.
(Kein Foto von heute, ausnahmsweise, heute gab es nur eine langweilige Fassade und ein paar Schilder.)

Nachdem wir gestern in einer Touri-Milonga waren, haben wir heute mal was ganz anderes gemacht, uns unters Volk gemischt quasi, um hier nochmal von einer ganz anderen Facette des Lebens in Buenos Aires zu berichten.
Baby B. ist die vorletzte Nacht einmal und letzte Nacht mehrmals mit quietschender Atemnot aufgewacht, fiependes Einatmen, Weinen, Würgen. Außerdem hatte er letzte Nacht Fieber. Meine private Diagnose war Pseudo-Krupp, und ich habe mich entsprechend verhalten, ihn natürlich beruhigt und dann zusammen längere Zeit die Ravioli im Tiefkühlfach bei offener Klappe angeschaut und die kalte Luft eingeatmet, bis er wieder normal Luft bekam. Heute morgen fiepte er wieder beim Atmen, war natürlich unausgeschlafen und heiser, und so sind wir heute zur Abwechslung mal ins Hospital de Niños gefahren, um das abklären zu lassen.
Das Kinderkrankenhaus ist eine Art Poliklinik mit offener Sprechstunde. Es liegt mitten in Palermo, eigentlich gute, beste Lage, wenn ich auch selten so viel Hundekacke in einem einzigen Straßenblock gesehen haben und darum würgend und mit Ekel-Gänsehaut in die Anmeldung kan. Aber um mich ging es nicht. Wir mussten erst am zentralen Schalter eine Nummer ziehen, dann zur Voranmeldung und dort zwei Damen in grünen Hemden schildern, was B hat. Mit einem gestempelten Laufzettel, auf dem sein Alter und Grund unseres Besuchs vermerkt waren, wurden wir dann in die entsprechende Abteilung geschickt, Pabellón L, allgemeine Fälle offenbar.
Dort wimmelte es von Kindern und Eltern, wir mussten wieder eine Nummer ziehen, „67“, die elektronische Anzeige stand auf „8“, hurra. Es stellte sich aber schnell heraus, dass die Anzeige nicht funkionierte, die jeweilige Ärztin streckte nach jedem Patienten den Kopf aus einem der drei aktiven Sprechzimmer und fragte in die Runde, welche Nummer nun dran sei. Auch wenn das Krankenhaus in einem noch etwas besseren Viertel liegt als unser Lieblingsspielplatz, war das Publikum doch deutlich anders. Der Altersdurchschnitt natürlich ähnlich, aber die mit uns wartenden Mütter waren deutlich weniger blond und ihre Kurven deutlich weniger fitnessstudio-definiert als bei den Spielplatzmamis.
Ich hatte heute andere Dinge zu tun und im Kopf und habe jetzt leider nicht das Gesundheitssystem Argentiniens aufgearbeitet, um es hier kompetent darzustellen, aber die Krankenhäuser teilen sich in Hospitales, Clínicas und Sanatorios, und sie teilen sich in öffentliche und private Krankenhäuser verschiedener Träger. Bei uns zu Hause um die Ecke ist ein Krankenhaus der „Obra Social“, das riesige Universitäts-Krankenhaus der medizinischen Fakultät der größten staatlichen Universität ist ebenfalls in unserem Viertel, es gibt französische oder nach Heiligen benannte Kliniken, aber auch die einzelnen Krankenversicherungen unterhalten eigene Kliniken und Notarzt- bzw. Rettungswagen-Systeme. Um die Kliniken herum siedeln sich Fachgeschäfte für Zahnarztstühle, Nahtmaterial, Prothesen oder medizinische Lehrmodelle an, hier in der Nähe gibt eine ganze Reihe „Ortopedias alemanas“, deutscher Orthopädie-Geschäfte, eine Art Sanitätshäuser, wenn ich das recht sehe. Das Hospital de Niños ist öffentlich, die Sprechstunde der Guardia (Ambulanz) ist für uns alle kostenfrei, und es hat eigentlich einen guten Ruf. Die Ärztinnen stellen eine (erste) Diagnose und schicken die Patienten weiter, in eine andere Abteilung oder mit einem Rezept in die Apotheke, ob man das Medikament dann selbst bezahlen muss, hängt dann davon ab, ob man eine Versicherung hat und welche. Ich habe auch erst jetzt herausgefunden, wo ich anrufe, wenn tatsächlich ein Notfall eintritt – so etwas wie das „112“ habe ich gestern Nacht nicht gefunden, eben auch darum, weil der Bereich so zersplittert ist, dass man zum Beispiel ein konkretes Ambulanz-Unternehmen anrufen kann, wenn man einen Krankenwagen braucht. Die Freunde, die ich heute um Rat fragte, rufen immer direkt bei ihrer Krankenkasse an, und die würde ihnen dann einen Krankenwagen schicken, der bei ihnen unter Vertrag schickt. Eine etwas generalisierte Nummer habe ich heute aber herausgefunden, das ist wohl die „107“. Ich hoffe, wir werden sie nicht brauchen.

Auf den Fluren sieht es aus wie in einem der vielen Krankenhaus-Bilderbücher, ein Wimmelbild, auf dem man fast alles findet: Kinder im Rollstuhl, Kinder mit Augenklappe, Kinder mit Nasensonde. Weinende Kinder auf dem Arm ihrer Eltern, schlafende Kinder, spielende Kinder. Die Eltern und Großeltern sehen etwas erschöpft aus, wahrscheinlich haben wir alle schlechte Nächte hinter uns. Die Stuhlreihen im Wartebereich sind so eng gestellt, dass nicht mal die Kinder einfach so zwischen den Knien der einander gegenüber Sitzenden durchschlüpfen können, und wenn die wartenden Patienten bisher nichts hatten, haben sie jetzt Gelegenheit, sich mit irgendetwas anzustecken. In den Ecken läuft auf Fernsehern der Comic-Kanal, es schaut aber keiner recht hin.
Das Krankenhaus-Personal trägt alle Varianten von Uniform, offener Kittel über dem Sommerkleid, bunter Kasack, OP-Overall, die meisten Kinder kommen offenbar direkt von zu Hause und sind „zivil“ da. Nur einmal läuft eine schnatternde Gruppe von drei Grundschülern in Schulinform aus dem Chirurgie-Bereich kommend durch unsere Wartezone, vielleicht ein Unfall in der Pause, die kleinen Jungen in ihren weißen Kitteln mit Heften unter dem Arm sehen auf den Krankenhausfluren ganz rührend aus.
Als wir schließlich als fast die letzten des Vormittags dran sind, hört sich die junge und strahlende Ärztin meine Beschreibung der Symptome an, nickt, ich meine, für mich würde das wie „Pseudo-Krupp“ klingen, sie nickt wieder, „seudo-crup“, denkt sie auch. Sie hört B. ab, er muss sich noch einmal für einen Blick in den Hals auf das zerknitterte Papier der Liege des winzigen Sprechzimmers legen, dessen hinterer Ausgang zu einem weiteren Gang hin offen ist, dann bestätigt sie unsere Diagnose: Pseudo-Krupp. Sie nennt den Namen eines Medikaments, ich frage, ob das Cortison sei, sie lacht, ja, Diagnose stimmt, Medikamt stimmt, das sollen wir ihm drei Tage lang geben, wenn er nicht darauf anspricht, wieder eine Ambulanz aufsuchen. Sie schäkert noch etwas mit B. und stellt die Rezepte für die Apotheke aus, und ansonsten hätte sie noch einen Geheimtipp für die Nächte, wenn es akut ist. Ich schlage die offene Tiefkühltruhe vor, sie lacht wieder, genau, aber ich wisse ja alles,“nächstes Mal kommst Du alleine“, sagt sie zu Percanto, „sie ist ja nur mit, weil sie das Rezept mit Stempel braucht, aber so ist das ja langweilig, wenn sie schon alles weiß, macht das keinen Spaß.“

Als wir rauskommen, hat sich der Trakt fast geleert, den Wartenummern zufolge waren wir heute Vormittag etwa 70 Patienten nur im Bereich „zum ersten Mal hier“, und alles war für uns alle umsonst, egal ob und wie wir versichert sind, das ist ganz schön beachtlich. Insgesamt stehen die öffentlichen Krankenhäuser gerade in der Provinz allerdings arg in der Kritik, der hygienische Zustand sei katastrophal, viele Patienten würden nicht behandelt, andere schlecht. Wir können uns heute nicht beschweren.

Am Nachmittag gehen der kleine Patient und ich nur kurz zur Tante und dann schaukeln, im Sand buddeln und ein Eis essen, er mag Zitroneneis, und zu Hause kochen wir die Ravioli, die wir mitten in der Nacht schon im Tiefkühlfach angeschaut haben. Das Kulturprogamm für heute Abend, ich wollte ins Kino oder Theater, ist darum gestrichen. Dafür im Fernsehen gezappt, in einem Programm taumeln Moderatoren in roten Badeanzügen und farbigen 3D-Brillen durcheinander und versuchen irgendwelche an Schnüren hängenden Dingen zu fangen, im nächsten mehrere Jahrzehnte altes Bildungsfernsehen über korrektes Autofahren, in einem anderen erklärt Eduardo Galeano hinter einem Schreibtisch mit güner Lampe die Welt. Galeano! Ich hab mal für Galeano eine Lesung mit Diskussion gedolmetscht und mit ihm Abendbrot gegessen. Davon erzählt er natürlich nichts.
Vielleicht sollte ich für Notfälle noch etwas Spielzeug in den Kühlschrank legen. Wenn wir heute Nacht wieder kalte Luft brauchen, was ich nicht glaube, sind dort nur noch ein paar triste Eiswürfel anzutreffen, die werden B. nicht lange dazu animieren, ins Eisfach zu atmen.

40 Tage Buenos Aires [32]

Tag 32, Donnerstag, 18. März 2010: Gespiegelte Nachmittags-Milonga in der Confitería Ideal, Suipacha.

Die Confitería Ideal, ein etwas blätterndes Jugendstil-Prachtstück. Die sich einst über zwei Stockwerke erstreckende Konditorei ist heute Tangosalon, und im oberen Stock finden auch nachmittags Milongas statt. In der Confitería Ideal war ich schon seit meinem ersten Aufenthalt nachmittags tanzen, mittags gibt es Tango-Unterricht, dann je nach Wochentag ab 15 oder 16.30 Uhr Tanz, wo auch die Angestellten umliegender Büros ab und zu in ihrer Pause vorbeischauen, sonst sind aber vor allem Rentner und Touristen dort. Nicht die glitzernde, aufgeheizte nächtliche Tangoszene, aber mit eigenem Charme. Und wenn ich sonst schon nicht tanzen war dieses Mal, so doch wenigstens heute in der Confitería. Wir gehen alle zusammen, Baby B. bleibt im Wechsel bei mir oder bei anderen Gästen, und wir tanzen auch einmal zu dritt, was uns wiederum in ein beklatschtes Foto-Objekt einiger junger Touristen verwandelt. Zum Teil sind die gleichen Leute da, die ich von den ersten Jahren hier kenne. Eine ältere Dame tanzt erst mit Percanto und hütet dann für eine Tanda Baby B. – eine Tanda eine Folge von drei Tangos des gleichen Orchesters, danach wird eine gänzlich andere Musik als Cortina, Gardine, angespielt, man dankt seinem Tanzpartner und setzt sich und hat dann bei der nächsten Tanda Gelegenheit, mit jemand anderem zu tanzen. Diese Dame kommt mir ebenso bekannt vor wie der winzige alte Herr mit den roten Lackschuhen, am Ende sind sich auch Percanto und die Dame sicher, in einem anderen Jahr schon mal in der Confitería miteinander getanzt zu haben. Der alte Herr mit den roten Schuhen und der etwas irritierenden Disney-Krawatte weicht eine Weile nicht von Perantos Seite, er ist so begeistert von seinem Milonga-Stil, dass er Percanto nachdrücklich um Einzelunterricht bittet. Sie haben Daten ausgetauscht, später bestürmt der Herr auch mich, ich solle mit Percanto reden, dass der ihn anruft, er will unbedingt tanzen wie er! Das ginge bei seiner Novia zu Hause, bei seiner Freundin, die haben genug Platz, und ich solle einfach mitkommen, ich würde dann einen Wein bekommen, während Percanto ihnen seinen Milonga-Stil beibringt. Toll sei der, toll.
Das Ambiente ist familiär und trotz der korrekt gekleideten Kellner und des traumhaften und gerade wegen seiner leichten Angeschlagenheit besonders reizvollen Raumes etwas improvisiert. Als ich das letzte Mal hier war, war der Raum aber noch schrammeliger, sie hatten damals keine Tischdecken, es wirkte an mehr Ecken als heute, als sei man eigentlich hinter die Bühne oder einen sonstwie abgesperrten Bereich geraten, und an der Kaffeetheke hat man immer erst gefragt, ob sie eigentlich auch noch Cafébetrieb haben. Der brummt zwar auch dieses Mal nicht, es ist eher leer, aber der Salon wirkt doch etwas aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst. Die Tango-Etikette wird nicht übertrieben streng eingehalten, die DJane albert zwischendurch mit B. herum, am Rande der Tanzfläche üben zwei Paare Führen und Haltung.
Wir trinken Cortados und ich würde eigentlich gerne eine Mokkatasse mit orangefarbener Confitería-Borbonen-Lilie für meine Sammlung klauen. B. erledigt das, indem er sich an der langen Tischdecke hochzieht und dabei die Tassen runterreißt; die mit dem abgebrochenen Henkel darf ich ganz offiziell mitnehmen.

40 Tage Buenos Aires [31]

Tag 31, 18. März 2010: Kleine Demonstration auf der Av. Corrientes, Richtung Obelisk und dann Ministerio de Educación.

Fast jeden Tag wird hier irgendwo demonstriert, protestiert, eine Straße blockiert oder eine Brücke gesperrt. Gestern machten Anti-Kirchner-Demonstranten für eine oder mehr Stunden die Brücke Pueyrredón dicht, heute stolperte ich auf dem Heimweg in den eher kurzen Aufmarsch von Universitätsdozenten, die einen 48-stündigen Streik ankündigen, um gegen ihre schlechte Bezahlung zu protestieren.
Vielleicht sollte ich von meiner selbstaufgestellten Regel ablassen, dass das Foto im Blog immer vom gleichen Tag sein muss. Bevor ich ein vernünftiges Bild habe – ich renne mit B in der Karre und meinen roten Sandalen immer wieder an den sich stauenden Autos vorbei, um eine bessere Perspektive zu bekommen, aber die Demonstranten haben es eilig und hängen mich an jeder Kreuzung wieder ab – fängt es derart an zu regnen, dass ich umdrehen und B ins Trockene bringen muss. Ich renne also auf der etwas leereren Parallestraße zur Corrientes wieder zurück, zum Glück ist es nicht weit. Die ersten Mädchen, die mir entgegenkommen, kommentieren noch mitleidig „das arme Baby wird ganz nass“, an den erheiterten Gesichter der anderen Passanten kann ich dann erkennen, dass es B. gut geht. Er liebt Wasser, und durch strömenden Regen zu rennen findet er wahnsinnig komisch, er quietscht und lacht im Wagen und leckt sich die nassen Arme ab. Der Regen wächst sich dann, als wir zu Hause sind, zu einem heftigen Gewitter aus, erst jetzt, nach Mitternacht, lässt es nach.

Dass die Regenfälle zu so heftigen Überschwemmungen führen hat seinen Grund auch in der verfehlten Baupolitik. Die innerstädtischen Viertel, die beim großen Regen vor 4 Wochen am stärksten von Hochwasser betroffen waren, sind wie zum Beispiel Palermo Viertel, in denen in den letzten Jahren massiv die alten Baustruktur, nämlich traditionelle niedrige und wunderschöne Häuser mit Innenhöfen, niedergerissen und durch Hochhäuser ersetzt wurde. In den alten Häusern lebten wenige Familien, und nun wohnen statt zehn Familien in einer Cuadra, einem Straßenblock, hundert. Die Entwässerungssysteme sind aber für zehn Familen ausgerichtet, und da dies nicht nur an einer Ecke so ist, sondern überall, kollabiert die Kanalisation, sobald etwas mehr als die durchschnittliche Menge Regen fällt. Abgesehen davon ist es ein Jammer um die alten Häuser und das typische Straßenbild, das den Reiz dieser beliebtesten Viertel ausmacht, aber das mag jenseits der offensichtlichen Unvernunft ja Geschmacksache sein.
Vor der Demo und dem Regen waren B. und ich nochmal in ein paar Buchläden, Perlen suchen, allerdings ohne rechte Resultate, und ich war in einer Fotographie-Ausstellung im Centro Cultural San Martín. Es sind Bilder von Diego Aráoz, „Santa Lucía. Arqueología de la violencia“. Die Serie von ziemlich dunklen Schwarz-weiß-Fotos dokumentiert eine in der Diktatur als Gefängnis genutzte alte Fabrikanlage in der Provinz Tucumán. Einige der Bilder sind gut (und natürlich hadere ich gewaltig mit meiner heutigen Ausbeute), allerdings kann ich nur auf wenigen das erkennen, was sie ausdrücken sollen: Die Spuren der Gewalt, die auch nach 30 Jahren noch an den Gebäuden sichtbar sein sollen. Manches ist offensichtlich und eindrücklich, wie die in die Wände eingeritzten Initialen, andere Fotos überzeugen auch ganz ohne den Kontext, wie das einer heruntergekommenen Wand, auf der in Großbuchstaben „FELIZ DIA“ („glücklicher Tag“, auch im Sinne von „herzlichen Glückwunsch“) steht. Bei vielen sehe ich aber trotz Hintergrundinformation nicht mehr als alte Wände oder Bodenfliesen.
Was ich unabhängig von den oft sehr hochwertigen einzelnen Ausstellungen bemerkenswert finde, ist die meines Erachtens hier sehr niedrige Schwelle zu Kultur. Das ist sehr schön und wird, soweit ich das sehe, auch genutzt. Die vielen Kulturzentren bieten das meiste kostenlos an, auch beide Foto-Ausstellungen, die ich besucht habe, waren ohne Eintritt. Die heutige Ausstellung war in der Galerie des Theaters San Martín gehängt, und auch wenn die Vorstellungen erst spät am Abend sind, ist das Gebäude praktisch immer geöffnet. Neben den Ausstellungen bietet es etwa ein Café und eine kleine, wenige Regalbretter umfassende Spezialbuchhandlung für Theaterliteratur, von Hamlet-Ausgaben bis zu Texten über Handpuppen oder Kostümgeschichte. Außerdem kann man sich – auch das Teil der niedrigen Schwellen – für diverse Kurse rund um das Theater einschreiben. Ich kenne einige Leute, die diese Art von Kulturkursen sehr ernsthaft betreiben, der Sohn der Tante etwa arbeitet tagsüber in einem Lager und „studiert“ außerdem in dieser Form seit Jahren Theater, bringt auch Stücke auf die Bühne. Überhaupt habe ich hier eine große Ernsthaftigkeit in allem, was bei uns unter „Hobby“ oder „Freizeitbeschäftigung“ läuft. Vor Jahren habe ich ein junges Mädchen kennengelernt, das Ballett tanzte, und es stand völlig außer Frage, dass sie das natürlich beruflich machen würde, dass sie Tänzerin würde. Dafür lerne sie ja tanzen. Einige der Kulturkurse führen zu Berufsbezeichnungen, auch die schon bekannte Tante besucht etwa seit einem Jahr abends Folklore-Tanz-Kurse in einem Institut, und Endes dieses Jahres wird sie sich außer pensionierter Ärztin auch Folklore-Lehrerin nennen. Ich habe darum manchmal etwas Schwierigkeiten zu definieren, was ich so tue außerhalb meines Berufs im engeren Sinne, dass ich beispielsweise weder Chor noch Fotografie professionell betreibe, aber trotzdem konsequent zu den Proben gehe, und das seit vielen Jahren, ohne dafür einen Titel zu bekommen.
Heute Abend habe ich dann wieder einen Film gesehen, auf die Idee hätte ich auch zur eher kommen können. Das Blog könnte zur Zeit auch „Meine Woche mit Ricardo Darín“ heißen, ich habe den Oskar-Film „El secreto de sus ojos“ geschaut, wo er schon wieder die Hauptrolle spielt.
Der Film kommt für mich nicht an den gestrigen heran. Beides sind sicher kommerzielle Filme, aber „Secreto“ ist noch etwas glatter, hallt trotz der aufgeworfenen großen Fragen weniger nach.
„El secreto de sus ojos“ spielt auf zwei Zeitebenen, am Rande geht es auch hier um die Diktatur, allerdings nur für einige Passagen. Etwas störend fand ich, dass die zentralen Sätze, deren Korrespondenz ich durchaus auch alleine bemerkt hatte, in einer aus Rückblenden montierten Collage kurz vor Schluss noch einmal alle wiederholt werden, und dann, damit der Zuschauer sie auch ja bemerkt, die allerwichtigsten sogar noch einmal. Das Sentenzhafte mag ich ja nicht so, und die romantische Wendung am Ende schien mir zu optimistisch im Vergleich zum vorigen Verlauf und wenig überzeugend. Eigentlich schien es mir über weite Strecken ein Film über Sexismus, Hierarchien und Geschlechterverhältnis zu sein, auch das wird aber nicht durchgehalten oder bei den beiden Hauptfiguren ziemlich unmotiviert – nagut, wegen der Liebe, irgendwie – einfach aufgelöst. Die Statusdifferenzen werden im Original stark durch einen sehr argentinischen Sprachduktus gestützt, ich wüsste gerne, wie viel davon das Oskar-Kommitee eigentlich mitbekommen konnte.

40 Tage Buenos Aires [30]


(Gracias, chicos, que me dejaron sacar las fotos! Ya se las mando por mail.)

Tag 30, Dienstag, 16. März 2010: Tango. Av. Callao / Av. Santa Fe.
Drei Jungen tanzten in wechselnden Paarungen und unterschiedlicher Rollenverteilung die „base“, den Grundschritt nach, dessen Schrittfolge an der Ecke Callao / Santa Fe in den Bürgersteig eingelassen ist. Hier führt der rechte Junge den linken gerade in den fünften Schritt, das Kreuz.

Sehr viel haben wir nicht erlebt heute, außer natürlich Baby B.s erstem Haarschnitt. Der hat damit zu tun, dass es etwas kühler und vor allem trockener geworden ist, und mit sinkender Luftfeuchtigkeit haben sich prompt seine Locken entkringelt und die vormalige Stirnlocke fiel ihm glatt bis auf die Nasenwurzel. Also habe ich meinem Babykind heute das erste Mal die Haare geschnitten, zumindest vorne ein Stück und hinten ein bisschen. Die Locken über den Ohren sind noch dran, und die Ohren auch.
Etwas kühler geworden heißt, dass wir ohne Ventilator geschlafen haben und auch jetzt am Abend die Kombination Spaghettiträger und Ventilator übertrieben wäre. Gestern habe ich sogar abends ein langärmliges T-Shirt angezogen, aber man fängt ja nach so großer Hitze albernerweise schon bei 25° an zu frösteln, die Argentinierinnen tragen längst Tücher und Jacken. Ich hoffe, die Frühlingsanzeichen in Deutschland, die mir alle übermittelt werden, setzen sich durch, sonst werden wir uns in zehn Tagen schön umgucken. Das werden wir natürlich sowieso, obwohl ich gestern mit dem Bedürfnis nach Ärmeln auch plötzlich das sehr herbstliche Bedürfnis nach Element of Crime hatte, die gleich „Wer zu lange in die Sonne sieht, wird blind“ sangen. So ist das wohl. (Ich versuche mich die ganze Zeit daran zu erinnern, ob Hosen sehr unbequem sind.)
Die Film- und Bücher-Einkaufstour von gestern haben wir heute nach dem Spielplatz fortgesetzt, und wir haben „Kamchatka“ doch noch im Original gefunden, überraschenderweise in der Buchhandlung „El Ateneo“ (vgl. Tag 3), wo ich von Marcelo Figueras Büchern nur sein Blog gefunden hatte. Außerdem haben wir CDs gekauf, Percanto Musik für sich, ich spanischsprachige Kinderlieder für Baby B. So richtig kommt man um Kindermusik wohl nicht herum, und dann sollte es wenigstens welche sein, die man als Eltern auch ertragen kann – und ich möchte sie in beiden Sprachen haben. Spanischsprachige Kinderlieder kenne ich zu wenig, um sie B. zu vermitteln, beziehungsweise kenne ich nur ein paar ganz alte, nämlich genau die, die auf der Kinderlieder-Platte waren, die unsere Nachbarn vor über 30 Jahren aus Chile mitgebracht haben. Als ich eines der brasilianischen Lieder bei meiner Brasilienreise mal anträllerte, zeigten sich die Einheimischen sehr irritiert. Sie würden das Lied zwar kennen, aber das würde nun wirklich niemand mehr singen, das sei ja mindestens 30 Jahre alt! Genau.
Die CDs wirken ganz gut, eine basiert auf der schönen lateinamerikanischen Folklore, eine enthält auch Zungebrecher und ähnliches, und auf allen singen die Leute so, dass ich das auch hören mag. Ansonsten sagt Freundin H., dass die richtige Folklore (außer Tango) auch gut geht mit Kindern, und das ist eigentlich jetzt schon so.
Ich wollte dann zu Hause mal kurz in den Film reinschauen, ob er läuft, bevor ich Felipe von der Buchhandlung wegen der Kopie absage. Kurz reinschauen ging nicht, ich habe „Kamchatka“ nun ganz gesehen, sehr gut. Regie Marcelo Piñeyro, und das Buch ist vom Autor des Romans, Figueras, und ich habe gerade gelernt, dass der Film älter ist als das Buch. Etwas irritierend, weil einige Szenen ohne den ausführlicheren Roman eigentlich nicht zu verstehen sind, aber ein Grund mehr, den Film im Seminar zu behandeln.
Der Vater ist Ricardo Darín, den ich nun schon in vielen argentinischen Filmen gesehen, sein Vater – der Großvater des Protagonisten – ist mit Héctor Alterio der gleiche, der auch in „El hijo de la novia“ Daríns Vater spielt. Mutter ist Cecilia Roth, die Jungen werden von Matías Del Pozo und Milton de la Canal gespielt. Zum Glück sieht die Hauptfigur, Harry bzw. Matías Del Pozo, meinem Kind so gar nicht ähnlich, eher schon der Kleine. Ich wusste ja sehr genau, worum es geht, aber es ist auch als Film wieder harter Tobak, und manche Dinge erträgt man als Mutter nicht unbedingt besser. Mit der Identifikation mit der kindlichen Hauptfigur ist es jedenfalls vorbei, und wahrscheinlich ist es gut, dass ich den Film jetzt einmal hier und allein gesehen habe, mit Taschentüchern und Pausen und Licht und dafür ohne all meine Studenten dabei. Und zum Glück ist mein ganz reales Babykind während des Films ganz oft aufgewacht, so dass ich immer rübergehen und es streicheln und uns beruhigen konnte.

Ich wiederhole nochmal meine Buch-Empfehlung, Marcelo Figueras, Kamtschatka, ins Deutsche übersetzt von Sabine Giesberg. (Der spanische Titel schreibt sich nur anders, Kamchatka.)
Auch der gleichnamige Film lohnt sich, wenn ihn die örtliche Videothek hat. Ansonsten bring ich eine Kopie mit. Sie sollten aber wissen: Es geht nicht gut aus. Und darum muss ich jetzt zu meinem Baby mit der Jungensfrisur. Gute Nacht.

PS:
Es muss ja nicht alles traurig enden, auch nicht der Blogeintrag. Wie jeder gute traurige Film hat auch „Kamchatka“ heitere und fröhliche Szenen. Sehr hübsch, wenn auch mit ziemlichem Kratzen im Hals (in meinem) schon, ist das gemeinsame Tanzen der versteckten Familie mitsamt dem bei ihnen mit untergetauchten Jungen Lukas. Sie tanzen zu diesem etwas albernen Lied:
Son tus perjumenes mujer. Sehr schön.

Und „mein“ brasilianisches Lied war dieses, Youtube hat ja alles:
Balaio meu bem.

PPS:
Da die verborgenen Links zu Youtube schon wieder nicht gehen, warum auch immer, bitte selbst kopieren:
Son tus perjúmenes mujer:
http://www.youtube.com/watch?v=x7O29IbwUyE
Balaio:
http://www.youtube.com/watch?v=68d_N_GO0tU

40 Tage Buenos Aires [29]

Tag 29, Montag, 15. März 2010: Innenhof Café Milion, Barrio Norte.

In dem überaus stilvollen Café und Restaurant mit Galerie „Milion“ legen wir zwischen einem langen Spielplatznachmittag auf „unserer“ Plaza Vincente López und dem nötigen Einkauf im Supermarkt „Coto“ eine Pause ein. Der Hof ist fast leer, nur hinten unter der Laube telefoniert in der lauen Zeit am Nachmittag leise ein Koch, die schwarze Uniform samt schwarzer Kochmütze tadellos. Mehr Zuspruch findet das Lokal wohl abends, wenn es Bar und Lounge ist. An den Wänden hinter den Hängepflanzen bitten freundliche Hinweisschilder auf weißen Fliesen darum, leise zu sprechen, „die Nachbarn ruhen sich aus“. Angeblich hat das Haus mal Deutschen gehört, erzählt uns der leutselige Besitzer, der hier seit zehn Jahren das Café betreibt. Die Freitreppe ist natürlich großartig, mir würde aber schon die Terrasse links oben auf dem Treppenabsatz genügen, oder die große Glastür. Schon das runde Fenster über dem oberen Balkon wäre phantastisch. Der Kaffee schmeckt dem Ambiente angemessen wirklich gut, allerdings servieren sie hier außer Wasser nichts dazu, keinen Keks, kein Alfjorcito. Da man Kaffee aber nicht so trocken runterwürgen kann, beiße ich einmal an Baby B.s Reiswaffel ab, die er, wenig überraschend nach den „Vainillas“ (Bisquits) und Butterkeksen, sowieso nicht aufessen möchte. Und das, was übrigbleibt, ist manifester Nationalismus: Aus einer schnöden, salzfreien Reiswaffel haben Baby B. und ich zusammen Argentinien en miniature gegessen. Toll.

Am Abend gehe ich nochmal alleine los und suche auf der Av. Corrientes Bücher mit bestimmten Aufsätzen sowie den Film „Kamtschatka“. Das Buch werde ich im Sommersemester lesen lassen, der Film dazu wäre eine schöne Zugabe. Ich beginne mit der Suche im „Solocine“ gleich an der Ecke Corrientes / Rodriguez Peña. Der Film-Laden ist sehr gut sortiert, der Mann an der Theke ebenso gut informiert, „Kamtschatka“ hat er nicht, aber er berät mich ein bisschen bei der Auswahl von Dokumentarfilmen, schließlich haben wir mit mehreren Kunden zusammen ein Gespräch über gute Dokumentarfilme und die Schwierigkeiten, Peronismus zu verstehen, und ich bekomme eine kleine Auffrischung in argentinischer Geschichte samt Filmgeschichte. Eigentlich wollte ich etwas dokumentarisches Material für die Fragen nach dem historischen Kontext in meinem Unterricht, schließlich verlasse ich den Laden zwar ohne Kamtschatka, dafür aber mit zwei anderen Spielfilmen und insgesamt sieben Dokumentationen, darunter eine Trilogie über die Unruhen 2001/02 von Pino Solanas, von der ich 2005 den zweiten Teil in einem Kino in Mendoza gesehen habe, „La Dignidad de los Nadies“, die Würde der Niemande. Ohne zu übertreiben hat sich nach der Vorführung das gesamte Publikum auf den Toiletten wiedergetroffen, wo wir uns die Nasen putzen und – auf der Damentoilette jedenfalls – die Wimperntusche von den Wange wischten. Ergreifend, beeindruckend, jetzt habe ich die ganze Trilogie und im Paket noch einen weiteren Film von Solanas dazu. Ich bin gespannt. Außerdem schicken mich die anderen Kunden und der Verkäufer in einhelliger Meinung los, den Film „La Patagonia Rebelde“ von Héctor Oliveira nach einem Roman von Osvaldo Bayer zu besorgen, ein Spielfilm auf historischer Grundlage, hier geht es um einen Aufstand in den 1920er Jahren. Diesen Film finde ich tatsächlich in einem Zeitungsstand an der Av. Corrientes für 15 Pesos, etwa 3 Euro. Mit den Büchern ist es zunächst schwierig, ich suche bestimmte Aufsätze, die zum Beispiel in bestimmten Bänden von Cortázar oder Benedetti sein können, vielleicht aber auch woanders. In einem der modernen Antiquariate, das vorne fast nur Ramsch hat, habe ich Glück. Der männliche Betreiber kommt aus Uruguay und hat die Benedetti-Ausgaben etwa im Kopf, da macht er mir nicht viel Hoffnung, sie haben den Band auch nicht. Die Frau meint aber, mir mit Cortázar helfen zu können, sucht ein bisschen hinter Schulbüchern, um dann eine Trittleiter gezielt anzustellen und aus der zweiten Reihe einen in Folie verpackten und mit „rar!“ beschrifteten alten Band zu ziehen. Die Ausgabe ist noch etwas älter als die, die ich auf der Liste hatte, aber zumindest der eine Aufsatz ist tatsächlich drin. Das Buch ist – wegen des Seltenheitswertes – etwas teurer als erwartet, aber allein die überzeugende Kompetenz dieses netten Paares ist es mir wert, zudem geben sie mir Hinweise, wo ich den anderen Text finden könnte. Ich klappere die Läden bis zum Obelisken auf der einen Straßenseite ab, auf der anderen geht es zurück. Inzwischen ist es dunkel und die späten Buchbummler mischen sich mit den ersten Theatergästen, die an den Kartenschaltern der vielen Schauspielhäuser anstehen oder aufgehübscht vor den geschlossenen Fassaden warten. In einer anderen Buchhandlung finde ich die anderen Cortázar-Texte in einer etwas schmuddeligen Neuausgabe, den letzte Versuch für den Film mache ich in einer Buchhandlung, die an der Rückwand auch Videos führt. Dies ist allerdings eine Täuschung, es ist kein Filmhandel, sondern eine Videothek. Es ist nichts mehr los, der Mann an der Theke trinkt mit einem Kunden, Freund oder Mitarbeiter aus der Buchabteilung Mate, als ich dazukomme. Wir unterhalten uns eine Weile über den Film, ich würde den Film auch ausleihen, um erst mal zu gucken, ob sich die doch eher schwierige Suche lohnt, da ich dafür aber Jahresbeitrag zahlen müsste, lohnt es sich nicht. Der Filmverleiher bietet mir dann von sich aus eine andere Lösung an: Weil ich ja schon im ehrenwerten „Solocine“ gesucht hätte und auch sonst alles zwischen „Solocine“ und dem Obselisken abgeklappert, also echtes Interesse hätte und Willen, einen Originalfilm zu kaufen, würde er mir den Film kopieren. Wir tauschen Namen und Mailadressen, morgen kann ich eine Kopie von „Kamtschatka“ ganz offiziell in der Buchhandlung abholen. Wenn ich noch ein Original bekomme – denn der Mann aus dem ersten Laden wollte es auch versuchen -, soll ich halt bescheid sagen.
Ich habe zwei Taschen voller Filme und Bücher nach Hause geschleppt und mehr ausgegeben, als ich auf der Suche nach zwei Texten und einem Film ursprünglich vorhatte, aber so macht das Spaß. Das letzte Ergänzungsbild ist nicht von heute Abend, sondern aus einem Antiquariat in der Av. Santa Fé, Richtung Palermo. Der Mann ganz links unten ist der Besitzer, auch ein Fanatiker, der einem aus diesen Stapeln, die durch den ganzen Laden – der hinten rechts noch weitergeht – wuchern, zielsicher die erfragten Bücher ziehen kann. Ich selbst finde beim Stöbern in diesen Läden nichts, aber wenn man was Bestimmtes sucht und fragt, bekommt man vielleicht das gewünschte Buch – oder aber jede Menge Anekdoten und Informationen aus dessen Umkreis, und die sind oft genauso spannend.

40 Tage Buenos Aires [28]

Tag 28, Sonntag, 14. März 2010: El Tigre.
Am Hafen von Tigre, im Vordergrund zeigt an einer Ruderschule ein Vater seiner Tochter einen von vielen toten Fischen, die hier angeschwemmt wurden.

Der Freitag ist der Abend für die Freunde, der Samstag der für die Freundin bzw. Ehefrau (oder umgekehrt? Ich weiß es nicht mehr, bin mit Kind irgendwie raus aus diesem Rhythmus), und am Sonntag trifft sich die ganze Familie, traditionell natürlich beim Asado bei den Großeltern. Und wer kann, verlässt am Wochenende oder zumindest an einem der Tage die Großstadt, heute haben mich wieder H. & J. mit Tochter E. mitgenommen, wir haben einen Ausflug in den Norden von Buenos Aires gemacht, nach Tigre. Tigre ist eine kleine Stadt im Delta des Paraná, nur etwa 30km von Buenos Aires entfernt und ein beliebtes Ausflugsziel. Wir fahren mit dem Auto, es fährt aber auch ein Zug. Die Häuser in Tigre sind niedrig, die Straßen von Platanen gesäumt, und im Zentrum des Interesses stehen der Hafen mit Ausflugsschiffen und Ruderschulen am Ufer, der Vergnügungspark mit Riesenrad und Achterbahn sowie vor allem der „Puerto de frutas“, der Fruchthafen, der von Früchten nichts mehr hat außer dem Namen. Seit vielen Jahren werden dort typische Korbmöbel verkauft – und mittlerweile auch jede Menge Touristenkram wie auf jedem Handwerkermarkt hier.
Nach einem Spaziergang am Ufer entlang, den E. mäßig findet, und einem Mittagessen, das wir mäßig finden, wollen wir einerseits auf den Korbmöbel-Markt, andererseits einen Ausflug mit einem der Boote ins Delta machen, vielleicht zu einer der Inseln. Wir fangen mit dem Markt an, und nicht nur wir; nach einer guten Stunde im Gedrängel zwischen den Buden an den alten Lagerhallen, die heute neben den erwarteten Möbel Stände mit Lederwaren, Schaffellen, Ketten aus bunten Samen, Häkelklamotten und Räucherstäbchen enthalten, will E. nur noch ein Eis und Baby B. will dringend laufen oder krabbeln, was am Hafen und zwischen all den Tagestouristenfüßen etwas schwierig ist. Außerdem ist es warm und stichig, das Licht auch für Fotos nicht befriedigend, und es wird immer voller.
Schließlich blasen wir die Bootsfahrt ab, die beiden unruhigen Kinder nun für eine Stunde auf ein Schiff zu sperren, scheint uns ziemlich die dümmste Idee der Woche zu sein, und sie für die Aussicht auf hübsche Inseln im Delta zu begeistern nicht besonders erfolgversprechend. Stattdessen machen wir, was man am Sonntag tun soll, und fahren zu den Eltern von J., die in der Provinz wohnen, um dort mit der Familie im Garten Mate zu trinken. Der Bruder mit Frau und Sohn ist auch schon da, die Kinder spielen zusammen im Sandkasten zwischen einem Avocado- und einem Zitronenbaum, und der zweite Teil des Ausflugs ist trotz des nun fehlenden Wassers klar der entspanntere.

Die Nutzung der Autobahnen kostet in Argentinien Maut, und da die einzelnen Teilstücke in Privatbesitz sind, wird alle paar Kilometer neu und ein ziemlich willkürliche Betrag kassiert. Zu Stoßzeiten , wenn in und um den Großraum Buenos Aires der private und öffentliche Verkehr kollabiert, kosten noch etwas mehr als die weniger frequentieren Zeitfenster, all das bietet Gelegenheit, sich alle paar Kilometer wieder über die Diebe und Wegelagarer der Mautstellen zu beschweren, zumal offenbar nur ein sehr geringer Teil des Geldes in den Erhalt der Staßen investiert wird. „Sie kassieren, was sie wollen, und sie machen damit, was sie wollen“, fassen meine Freunde frustriert zusammen. Wir legen ein Teilstück, das uns vom Tigre in ein Dorf im Westen der Provinz Buenos Aires bringen soll, auf der relativ neuen, 23 km langen Autobahn „Camino del Parque del Buen Ayre“ zurück. „Buen Ayre“ mit Y bezieht sich auf Santa María del Buen Ayre, unter diesem Namen gründete am 2. Februar 1536 der Spanier Pedro de Mendoza dort, wo heute das Viertel San Telmo liegt, die Stadt am Río de la Plata. Außerdem klingt es natürlich nach „buen aire“, aire bueno, guter Luft: „Weg des Parks der Guten Luft.“ Dieser Name ist ein Hohn. Links der Autobahn ist ein großes neues Armenviertel entstanden (hier heißen die Slums „Villa“, in Peru euphemistisch „Pueblo Joven“, also „Junges Dorf“, in Chile einfach „Población“, das ist schlicht „Ort“; der in Deutschland geläufige Begriff „Favela“ ist brasilianisch). Auf der anderen Seite zieht sich augenscheinlich ein Grüngürtel entlang, ökologischer Ausgleich, grüne Lunge, möchten man meinen. Verdächtig sind allerdings die aus dem Rasen ragenden Betonkuben und Luken, die Schornsteine – und schließlich die Lastwagen und Bagger. Tatsächlich ist dieser breite Grünstreifen, der kilometerlang parallel zur Straße läuft, eine einzige große Müllkippe, die mit Gras bepflanzt ist, die Luken sind zum Gasablassen, und die Laster bringen ständig neuen Müll aus der Megapolis heran. Soweit zur „guten Luft“ und zum Ökopark.
Meine private Ökobilanz ist natürlich genauso verheerend, außer der Fahrt im immerhin vollbesetzten Auto kam mein Wasser selbstverständlich wie immer hier in Plastikflaschen, die sie mir außerdem ebenso selbstverständlich in mehrere Plastiktüten gepackt haben. Und um das Schreiben für Euch mal mit etwas anderem als dem üblichen Wein aus Mendoza zu begleiten, trinke ich heute ein Quilmes zum Blog. Aus der Dose.

40 Tage Buenos Aires [27]

Tag 27, Samstag, 13. März 2010: Benefizkonzert für Chile „Argentina abraza a Chile“, Parque Pompeya.

Bis in den frühen Nachmittag drehen B. und ich eine ausgedehnte Spielplatzrunde, erst der übliche Spielplatz zum Schaukeln und Klettern, dann noch bis Plaza Francia / Recoleta, wo wir Eis essen und Kunsthandwerk anschauen. Ich habe B. dort ein wunderbares Spielzeug gekauft, was er vielleicht in vier bis sechs Jahren benutzen kann, aber dazu morgen mehr, wenn ich Tageslicht-Fotos davon habe. Außerdem habe ich noch an einem Zeitungsstand den oskarprämierten Film „El secreto de sus ojos“ gekauft, etwas weniger Mainstream zum Mitnehmen möchte ich die nächsten Tage noch suchen.

Zu Hause leg ich B. nochmal kurz hin, weil wir am späten Nachmittag noch einmal gemeinsam loswollen. Im Parque Pompeya am Stadtrand wird heute ein großes Benefizkonzert für die chilenischen Erdbebenopfer veranstaltet, der Eintritt ist frei und es ist unter anderem ein Auftritt von León Gieco angekündigt, das ist einer der populärsten Vertreter des folkloristisch angehauchten und politisch engagierten Rock Argentino. (Hier ein ruhiger Song zusammen mit Mercedes Sosa. Zum Weitersuchen fallen sogar mir spontan einige Titel ein, etwa „Cachito, campeón de Corrientes“ oder „Hombres de hierro“, letzteres hier in einem Konzert von 1971, also kurz vor Beginn der Diktatur.) Heute fahren wir Bus, und das nicht als einzige. Wir stehen schon mit vielen jungen, etwas alternativ gekleideten Leuten in der Schlange an der Bushaltestelle – man steht hier ordentlich an beim Warten auf den Bus, und wenn er kommt, springt man auf die Straße und winkt ihn heran, die Reihenfolge der Schlange wird aber beim Einsteigen eingehalten. Dem Fahrer sagt man, für wie viel man fährt, dafür muss man natürlich wissen, in welche Tarifzone man will. Der Fahrer gibt den genannten Fahrpreis ein und man zahlt den Betrag mit Münzen an einem Automaten hinter dem Fahrersitz. Einige Busse Linie 37 fahren völlig überfüllt vorbei, halten nicht mal an, offenbar will halb Buenos Aires zum Konzert. Schließlich werden wir mitgenommen, schon wenige Haltestellen später lädt auch unser Bus aber keine Passagiere mehr auf, wir fahren gesteckt voll direkt bis Pompeya. Die Fahrt dauert auch ohne Zwischenstopps etwa eine Stunde, geht über ein Stück Stadtautobahn und an der Costanera entlang, der Küstenstraße am Río de la Plata, der mit dunkelbraunen Wellen an die Kais klatscht. An den Balustraden stehen dicht an dicht die Angler, im Bus eher das Sardinen-Gefühl. Schließlich fährt der Bus auf das Gelände der „Ciudad Universitaria“ und der Fahrer wirft uns mit den Worten „Recital (Konzert), alle aussteigen“ raus. Wir müssen noch eine ganze Strecke laufen, aber der Weg ist einfach zu finden, denn es ist eine geschlossene Menschenschlange mit uns unterwegs. Als wir uns dem Gelände nähern, hört man bereits León Gieco, und Tausende von Menschen, die klatschen und mitsingen. Das Hauptfeld vor der großen Bühne ist voll, die Straßen drumherum sind etwas lockerer belegt, einige Leute sind wie wir mit Kindern unterwegs, und wir halten uns ganz hinten, zwischen Hauptfeld und der zweiten Leinwand. B. bekommt Taschentücher in die Ohren und klatscht und wippt. Es sind viele Leute, es wird langsam dunkel, aber alle sind entspannt, auch wir haben Mate dabei und setzen uns hinten auf den Bordstein, trinken Mate und essen salzige Kekse. Wir bekommen nur die letzten drei Songs von León Giecos Auftritt mit, dann singt er noch mit jemandem zusammen, den ich nicht kenne, nach einer kurzen Pause kommen „Los fabulosos Cadillacs“, eine ziemlich berühmte und beliebte argentinische Band. Zwischendurch Ansagen zum Stand der Spenden, denn der Benefiz-Charakter des Konzerts ergibt sich nicht aus Einnahmen aus Eintrittsgeldern, die gespendet werden, sondern die Künstler treten umsonst auf, der Staat schießt Gelder dazu und die Konzertbesucher bringen Lebensmittel und Kleidung mit. An den Rändern der Wiese stehen lange Tische, wo von Freiwilligen vor allem Wasser und Milch angenommen und direkt in dort wartende Lastwagen gepackt werden. Vor dem Aufritt „Cadillacs“ werden in einer Durchsage z.B. die Kleidungsspenden für ausreichend für 2.400 Familien für mindestens den folgenden Winter und die Lebensmittel zum Beispiel für Schulspeisung in der am stärksten betroffenen Region für knapp 200 Kinder und zweieinhalb Jahre beziffert. Auf den Plakaten an den Spendentischen und neben der Bühne steht groß „Argentinien umarmt Chile“ (ein Bild, was ich bei den Größenrelationen der beiden Länder fast ein bisschen bedrohlich finde, als würde Chile die Luft wegbleiben in so einer Umarmung), einige haben sich die chilenische Fahne ins Gesicht geschminkt oder tragen Fahnen über den Schultern, und zwischen den tanzenden und die Spendenziffern beklatschenden Leuten hab ich immer wieder Lust zu heulen.

Dabei haben sie meinen Chile-Song, bei dem ich zuverlässig weine, gar nicht gespielt: „Yo pisaré las calles nuevamente“ von Pablo Milanés, das ist nochmal ein etwas anderes Genre.

Gerade gestern schrieb mir mein Freund Jorge, dass es ihnen gar nicht gut geht, es klingt, als würde er jetzt erst die Ausmaße der Katastrophe erkennen. Vorher waren sie wohl im Auge des Hurrikans, da kam es darauf an, überlebt und seine sieben Sachen gerettet zu haben. Das Land sei am Boden, schreibt Jorge, nicht nur ganz praktisch, sondern auch emotional, „el ánimo“, der Geist. Auch Rosabetty, eine Dichterin, die ich vor vier Jahren auf ihrer Heimatinsel Chiloé ganz im Süden besucht hatte, spricht bedrückt von „Vorahnungen, dunklen Vorahnungen“ und dass sie nicht wisse, wie sie aus „dieser Grube“ wieder herauskommen sollen.
Wahrscheinlich wird in Europa nach dem kürzlichen Beben in der Türkei auch nicht mehr berichtet, dass die Erde in Chile ja immer noch bebt, jeden Tag haben sie um die 20 Nachbeben, davon im Schnitt drei stärkere mit um die 4, regelmäßig sogar welche um Stärke 6. Außerdem befürchten die Seismologen, dass das keine reinen Nachbeben seien, dass es noch nicht vorbei sei, sondern sich die Kontinentalplatten ‚demnächst‘ noch einmal richtig zurechtruckeln würden. Wenn sie das tun, ist mit einem weiteren Beben von der Stärke des ersten zu rechnen.
(Wie stark das übrigens war: die Werte auf der Richterskala steigen ja nicht linear, sondern exponentiell; ein Punkt mehr bedeutet eine etwa 32-fache Energiefreisetzung. Haiti hatte, wenn ich recht erinnere, 7,3, das in Chile jetzt lag bei 8,8. Und eine so große Multiplikation in diesen Dimensionen ist für mich eigentlich kaum vorstellbar. Dann kommen natürlich noch Tiefe und andere Faktoren dazu, rein subjektiv fand ich bei den kleineren Beben in Peru immer die selteneren eher horizontal schiebenden Beben gruseliger, bei denen der Boden eben nicht von oben noch unten wackelt, sondern unter einem wegzugleiten scheint.)
Wir verlassen das Spektakel schon vor Ende der „Fabelhaften Cadillacs“, um nicht mit Zigtausend Leuten um die Stehplätze in den Bussen zu kämpfen und weil B. irgendwann wieder nach Hause muss. Die ersten Kilometer durch das chice Viertel Belgrano sind noch Konzertverlängerung, an sicher nur heute Abend dort aufgebauten Garküchen zwischen bewachten Apartmenthäusern werden Hamburger gebraten, auch die Erdnussverkäufer sind bis hierhin unterwegs. Erst als wir wieder in den Bereich der U-Bahnen kommen, hat sich der stadteinwärts bewegende Strom der Konzertbesucher aufgelöst.


40 Tage Buenos Aires [26]

Tag 26, Freitag, 12. März 2010: Rino, Zwiegespräch. Zoológico Buenos Aires, Av. Sarmiento / Av. Las Heras, Palermo.

Was für ein deprimierender Zoo. Auf kleinem Gelände zum Glück nur wenige Tiere, ein paar Raubkatzen, bei denen man die Knochen zählen kann, ebenso magere Bären, der Braunbär kreist um sein rundes Wasserbecken und hebt immer an der gleichen Stelle den Fuß. Die Elefanten haben etwas mehr Platz vor ihrem 1904 erbauten Haus, auch die Giraffen haben zumindest nach oben Luft, um die Füße herum teilen sie das Gelände mit Zwergziegen und Straußen.
Das Nilpferd liegt hinterm Schuppen, der Tapir gähnt, das Tropenhaus ist leer bis auf einige in Schaukästen aufgespießte Schmetterlinge. Die einheimischen Tiere habe ich fast alle schon mal in freier Natur gesehen, nett sind hier die Maras Patagónicas, die großen Pampahasen, die im ganzen Zoo frei herumlaufen und neugierig auf Schnurrbartlänge an mein Objektiv kommen. Bei den anderen bricht es einem das Herz. Große Amazonaspageien in Volieren, kaum größer als heimische Wohnzimmerkäfige. Architektonisch sind sie hübsch, die zieselierten Eisenkäfige mit Zwiebeltürmchen-Dach stammen sicher noch aus der Gründungszeit des Zoos.und würden jedem Bilderbuch Ehre machen. Platz ist allerdings wenig darin, auch die Affen sitzen in solchen Käfigen und können sonst nicht viel tun. Die Lamas stehen struppig auf einem trockenen Feld, die Lasttiere in den Anden wirkten trotz ihrer farbigen Woll-Bändchen in den Ohren, die Besitz markierten, so stolz dagegen. Vicuñas, die kleinen wilden Verwandten mit dem feinen Fell, die nicht zähmbar sind, betteln um Popcorn. Einen etwas größeren, aber oben ebenfalls in einem engen Zwiebeltürmchen zulaufenden Käfig haben die beiden Condore. Sie stehen vor einem Kunstfelsen und gucken stumpf in die Gegend. Eine Mutter erklärt ihrer Tochter, dass das Condore seien, die ganz hoch fliegen können, darum sei der Käfig sooo hoch. Er reicht vielleicht bis zum 2. Stock der Hochhäuser auf der angrenzenden Avenida, kaum bis zu den Baumwipfeln. Die Könige der Lüfte, die ich in Peru über dem Valle del Colca, der tiefsten Schlucht in den Anden, habe kreisen sehen, in 3.000, 4.000 m Höhe. Hier stehen sie wie schnöde Fußgänger und schauen an uns vorbei, es ist ein Jammer.
Wir kürzen etwas ab und wollen noch ins Aquarium, das wie das leere Tropenhaus und das Reptilariun, das wir uns schenken, Aufpreis gekostet hat. Im Außengelände nur ein paar Seelöwen auf einem knappen Betonfelsen, andere drängeln sich im Bassin, im Teich daneben ein paar Kois, die von einer bolivianischen Familie begutachtet werden. Nur die Pinguine will ich noch sehen, meine Lieblinge. Wir finden sie erst, nachdem wir gefragt haben, denn die Pinguine wohnen anders als gedacht in einem Aquarium im Innenbereich, ohne Eis, ohne frische Luft, nur ein paar beige angemalte Beton-Eis-Wände im Hintergrund und ein schmales Becken, in dem drei kleine Pinguine kontinuierlich ihre Runden drehen.
Wenn das artgerechte Haltung ist, nehme ich mir tatsächlich wie schon lange gewünscht einen Pinguin mit nach Hause, tagsüber kann er in die Badewanne und nachts kann er im Kühlschrank schlafen.
B. fand die Tauben bei den Elefanten toll und die Perlhühner, womit er ganz auf der Linie der Kindergartengruppe liegt, die quietschend und juchzend an den Giraffen und Zwergnilpferden vorbei stürmte, geradewegs auf eine Ente mit Küken zu, die auf dem Hauptweg spazieren ging.
Wir haben den Zoo etwas bedrückt verlassen und waren dann auf dem Weg nach Hause noch am Botanischen Garten entlang, der voller magerer wilder Katzen ist, und im wunderschönen Palermo etwas spazieren.