Heile Welt der Kinderlieder und Märchen: im Turm (5)

Ich weiß nicht, welche psychischen Deformationen dazu führen, dass ein Mann wie Fritzl seine Tochter fast ein Leben lang einsperrt, oder dass jemand ein fremdes Mädchen in einen Lieferwagen wirft und dann ihre ganze Jugend lang bei sich zu Hause gefangen hält, oder dazu, kleine Mädchen auf der Straße einzusammeln und sie dann in den Keller zu sperren, zu missbrauchen und zu töten. Sie kennen die Fälle und genug schauderhafte Details, aber die Gründe nachzuvollziehen ist für Laien vielleicht nicht möglich, vielleicht schrecken wir aber auch davor zurück, uns in diese Psyche hineinzufühlen, wie kann so ein Verhalten einem Menschen richtig oder nötig oder gar gut vorkommen, oder ihm einfach egal sein. Interesse an diesen Fällen ist da, die Faszination des Grauens, aber nachvollziehen können und wollen die meisten von uns das wohl nicht. Das Leid der Opfer kann man nicht ermessen, nur ahnen, wie so eine Erfahrung, so ein Leben ihre jungen Seelen verbeult; das Innenleben der Täter bleibt mindestens so dunkel, so unerklärlich wie abgründig.  Wie wird man so? Hat so ein Mensch als Kind schon Frösche aufblasen oder die kleine Schwester in den Kohlenkeller gesperrt, wurde er selbst im Bettkasten aufbewahrt oder zur Strafe an einen Stuhl gefesselt, oder war er ein liebes, ganz normales Kind? Ich weiß es nicht, und vielleicht will ich es aus psychohygienischen Gründen auch gar nicht so genau wissen. Aber ich beobachte hier etwas.
Wir sind mit den Wolfsmärchen noch nicht durch, der Wolf und die sieben Geißlein wird nach wie vor täglich thematisiert und nachgespielt, auch die Wölfe aus Rotkäppchen und Peter und der Wolf sind sehr präsent. Neben den Märchen mit Wolf-Content hat Nuno momentan aber besonderes Interesse an Märchen mit einem Gefangenen-Motiv. Die Märchen auf diese Art einzuteilen, wäre mir zunächst gar nicht eingefallen, aber gewisse Strukturprinzipien lassen sich nicht leugnen, und sie übertragen sich auf das kindliche Spiel. Außer mit Geschichten, die er vorgelesen, erzählt oder interaktiv nachgespielt haben möchte, beschäftigt sich Nuno nämlich zur Zeit am liebsten mit Lego. Er baut, baut um, baut auf, baut ab, wirft im Frust alles hin, baut aus den Trümmern etwas Neues. Er baut Flugzeuge, Züge, Schiffe (mit Dixieklo auf dem Rettungsboot), er baut Treppen, Brücken, Häuser, Türme. Und in diesen Bauwerken sind Hohlräume, in denen Legofiguren eingemauert worden sind. Genauer, das eine kleine Legomädchen. Dieses Legomädchen hat inzwischen eine beachtliche Karriere hinter sich. Angefangen hat es als Rapunzel in einem hohen Legoturm,dann wurde es als Dornröschen schlafend in einem Turmzimmer eingemauert. Nun ist dieser dreijährige Junge, der bei mir wohnt, ein in der Regel freundliches, liebevolles und extrem offenherziges Kind. Auch für seine Märchenfiguren hegt er große Sympathie, dass die Mutter ihre Tochter einfach der Hexe überlässt, hat ihn erschüttert, einen Turm ohne Ausgang hält er für ein Unding. Warum macht die Hexe das? Einfach, weil sie böse ist? „Das darf man doch nicht!“ Wird er aber zum Legobaumeister, sind die Hohlräume winzig, Rapunzel oder Dornröschen müssen sich hinlegen und einquetschen lassen, und sie werden hermetisch abgeriegelt. Nichts deutet an den fertigen Bauwerken darauf hin, dass in ihnen Mädchen eingeschlossen worden sind. „Drinnen ist stockfinstere Nacht“, sagt der Sohn. Und das für 100 Jahre Schlaf. („Wenn sie aufwacht, ist sie aber ganz schön alt“, gibt er zu bedenken.) Nach dem Rapunzelturm und dem Dornröschenschloss hat Nuno auch den Zug mit geheimen Hohlräumen für Rapunzel ausgestattet, auch auf dem Schiff gibt es ein Dornröschen-Verließ, selbst die komplizierte Ketchup-Maschine mit Rutsche hat eine verborgene Kammer, gerade groß genug für das Legomädchen. Dann baute er „Gefängnisse für böse Mädchen“, und schließlich mauerte er „ein liebes Mädchen im Keller vom Haus“ ein. Nein, sie habe nichts gemacht, aber sie müsse da jetzt rein. Dieser Fritzl-Moment gibt schon zu denken.
Beim abendlichen Vorlesen sind wir gerade mit Räuber Hotzenplotz  beschäftigt – wo Seppl in der Räuberhöhle angekettet ist und Kasperl beim großen Zauberer Petrosilius Zwackelmann den Bannkreis nicht überwinden kann. Der Gefangenenchor schwillt stetig an. Gestern sind wir in den finsteren Keller von Petrosilius Zwackelmann vorgestoßen, wo in einem schwarzen Wasserloch eine Unke seufzt, die eigentliche eine verzauberte Fee ist. Im Keller versteckt und verzaubert. Ich erwarte neue Bauvorhaben in der Legoecke, und das kleine Legomädchen sollte sich besser warm anziehen.

Advent

So, ein bisschen vorweihnachtliches Glitzergebämsel ins Blog gehängt. Dabei ist das eigentlich gar nicht weihnachtlich: Entstanden ist das Foto auf dem Flohmarkt in San Telmo, Buenos Aires, im südlichen Sommer, und es sind wohl eher Anhänger für Kronleuchter als für Weihnachtsbäume. Dennoch zum heutigen Schneetreiben hier als Winterglitzerdetail umgewidmet.

Hier liegen meine Gebeine…

… ich wollt‘, es wären Deine.
Am Totensonntag machten wir, ohne die Korrelation weiter zu bedenken, einen Spaziergang auf dem schönen Stadtfriedhof. Da er stillgelegt ist (ist das der richtige Ausdruck für Friedhöfe? „Die Ruhestätten sind stillgelegt“? Weil vorher so ein Remmdemmi war?), wird er inzwischen Friedpark statt Friedhof genannt, und es ist wirklich ein ansehnlicher und sehr großer Park. Wir bummelten, lasen Grabinschriften, schauten nach Familie und nach stadtbekannten Namen. Im Nobelpreis-Viertel, wo die Nobelpreisträger Seite an Seite um einen kleinen See herumliegen und sich in bester Gesellschaft fühlen oder aber alte Konkurrenz weiter pflegen dürfen, fanden sich ein paar außergewöhnliche Grabsteine. Ästhetisch bestachen die Nobel-Steine vor allem durch Schlichtheit und teilweise modernistische Schriftgestaltung. Besonders interessant waren die von Max Planck und Otto Hahn: Der Physiker und der Chemiker haben außer ihren Namen nur eine Formel auf ihren Steinen – ich kann sie aber nicht lesen. Vielleicht ein mitlesender Naturwissenschaftler, oder jemand, der sich besser an Physik erinnert als ich? Stehen dort ihre Lebensdaten? Ist es die Zusammenfassung ihres wissenschaftlichen Lebenswerkes? Und weist der Pfeil auf Otto Hahns Stein auf Hahn selbst, oder auf das, was von ihm blieb?

Formel Max Planck

 

 

Formel Otto Hahn

In unmittelbarer Nachbarschaft der Nobelpreisträger fand sich auch ein Mediziner mit seiner Frau. Ihr Stein trägt ihre Namen in ihrer Handschrift, darüber ziert ihn eine etwas richtungslose Zackelinie – was ist das? Ein Bergmassiv, wo der Herr Doktor gerne in der Sommerfrische weilte? Oder ist es wie bei den Wissenschaftlern nebenan ein Ausdruck seines Berufslebens, eine Grafik, die in Bezug zu seinem Wirken als Arzt steht? Den Grabstein in seiner eigenen Handschrift zu beschriften zeugt bei einem Arzt ja schon von einem gesteigerten Sinn für Humor. Zu übertreffen wäre das vielleicht noch von einer individuellen EKG-Kurve, die in quer über den Stein läuft – nach ein oder zwei Ausschlägen als Nulllinie.