12 Tage Santiago [4]

Jetzt wird’s langweilig: Ich arbeite. Heute habe ich keinen Pulverkaffee im Hostal gefrühstückt, sondern bin an diesem eisigen Wintermorgen – Handschuhwetter! – mit der Metro losgefahren ins nächste Viertel bergaufwärts, um dort in ein Café zu gehen, wo ich vor Jahren mit dem Doktorvater war und später noch ein paar Mal allein, um dort den Vortrag endlich fertig zu bekommen und dann noch durch die Buchhandlungen nebenan. Metro im Berufsverkehr, so etwa stellt sich der Südamerikareisende Tokio vor. Es ist gesteckt voll, manchmal muss man mehrere Züge durchlassen, und ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was eigentlich die Aufgabe der alle 5 Meter an der gelben Abtandslinie postierten Bahnsteig-Aufpasser ist, die nur zur „hora pic“ da sind: Sollen sie verhindern, dass sich Leute von außen an die Waggons hängen, oder sollen sie uns ein bisschen weiter durch die Türen quetschen, damit noch ein Dutzend Passagiere mehr mitkommt? Im Zug kann man nicht umfallen und ich bin ganz froh, größer als der Durchschnitts-Chilene zu sein und halbwegs Luft zu bekommen. Ich bin in „Los Leones“ ausgestiegen und hatte das Gefühl, richtig zu sein. Genau konnte ich es nicht mehr wissen, denn wie ich heute früh festgestellt habe, steht das Stadtplanbuch von Santiago, in dem auch alle Telefonnummern und Geheimtippadressen notiert sind, noch neben den Reiseführen im Regal zu Hause, mitgenommen habe ich stattdessen den Stadtplan von Buenos Aires. Damit komm ich hier nur bedingt weiter. Ich hatte also immerhin das Gefühl, richtig zu sein, den Namen des Cafés wusste ich auch nicht mehr, nur dass es in einer Galerie liegt, deren Namen ich auch nicht erinnerte. Calle (?) Vitacura hatte ich als fixe Idee im Kopf, ohne Gewähr. Ich bin von der U-Bahn aus weiter bergauf gegangen, es musste auf der linken Straßenseite, soweit war ich sicher, aber vielleicht deutlich weiter oben. Zwei Cuadras lang kam mir alles sehr bekannt vor, aber als ich die nächste U-Bahn-Station zu Fuß längst hinter mir gelassen hatte und es fremder wurde, musste ich mir eingestehen, dass die Richtung wohl nicht stimmte. Also umgedreht, wieder vorbei an den Obsthändlern, die gerade die Avocados und die Nuss-Tüten auf Tüchern auf dem Bürgersteig sortieren oder die Bananen an die Stange über dem Obstkarren hängen, vorbei an fliegenden Händlern mit Räucherstäbchen, im Strom der Leute, die zur Arbeit gehen, die Schüler sind schon durch. Als ich den Namen des Cafés sehe, weiß ich es wieder. „Tavelli“, genau. Und die Galerie ist auch noch da, und die Buchhandlung, und er Laden mit den Stoffen und indigen angehauchten Klamotten, in dem sich vor 5 Jahren mal jemand verschanzt hatte, während eine Frau in der Galerie herumlief und uns alle anbrüllte, die seien Räuber, Diebe, unehrenhaftes Gesindel, die nicht das bezahlen, was sie an Waren ankaufen, dann Polizei und das Ende haben wir sie lieber ohne uns ausmachen lassen. Alles noch da, außer dem Schmuckstand in der Mitte der Galerie, dort verkaufen sie jetzt Chile-Bücher und Postkarten. Ich installiere mich im Café und arbeite bis nachmittags, mit Kaffee und Himbeersaft und Crêpes, anschließend gebe ich mein restliches Geld für Bücher aus, die ich für die Lesungen im Herbst brauche – und finde zufällig einen Text-Bild-Band, an dem eine ehemalige Kommilitonin beteiligt ist, allerdings ist, was wirklich gemein ist, ihr Name auf dem Cover falsch geschrieben, und was dann noch übrig ist, investiere ich im Wollpullover – der hier zu Ende gehende Winter ist sicher bald bei uns. Den Heimweg teile ich mit zahllosen Mädchen in Schuluniformen, alle in Dunkelblau mit kurzen Röckchen, die meisten noch mit dicken Schuhen und Stulpen über den Strumpfhosen, einzelne haben nach dem frühlingshaften Wochenende nur Kniestrümpfe unter dem Rock an und darum die Beine farblich passend zur Schuluniform. Und alle haben lange Haare. Im Park haben sich die Pärchen vom Rasen auf die Bänke geflüchtet, überall küssende Schüler unter blühenden Zweigen. Entweder hat dieser Frühling schon mehr Durschlagkraft, als man ihm bei den Temperaturen zutraut, oder es gibt hier mehr Liebespaare, oder sie knutschen mehr, oder sie haben weniger Zimmer für sich allein. Vielleicht auch eine Kombination aus all dem.


Die Berge hängen unsichtbar hinter Wolken, Nebel und Smog, sonst würde ich sie Euch gerne mal zeigen.
Am Abend ist im Centro Cultural Mapocho die Eröffnung des Kongresses. Das Centro Cultural Mapocho ist der alte Bahnhof, ein imposantes Gebäude, in dem auch die Buch- und andere Messen stattfinden.


Leid
er ist es kein Bahnhof mehr, denn Chile hat die Eisenbahn abgeschafft – was eigentlich nicht zu verstehen ist, denn wenn ein Land für die Eisenbahn gemacht zu sein scheint, dann Chile mit seiner „loca geografía“. Man bräuchte nur eine einzige lange Bahnlinie, nur einen Schienenstrang, oder zwei parallele, damit man gleichzeitig in den Süden und den Norden fahren könnte, und damit wäre das ganze Land versorgt.

(Der chilenische Anti-Poet Nicanor Parra meint zum Bahnverkehr in Chile folgendes:

La locomotora del tren instantáneo
está en el lugar de destino (Pto. Montt)
y el último carro en el punto de partida (Stgo.)

la ventaja que presenta este tipo de tren consiste en que el viajero llega
instantáneamente a Puerto Montt en el
momento mismo de abordar el último carro en Santiago
lo único que debe hacer a continuación
es trasladarse con sus maletas
por el interior del tren
hasta llegar al primer carro
una vez realizada esta operación
el viajero puede proceder a abandonar
el tren instantáneo que ha permanecido inmóvil
durante todo el trayecto

Observación: este tipo de tren (directo)
sirve sólo para viajes de ida

[Aus: Hojas de Parra.] )


Die Eröffnung findet im Untergeschoss des Centro Cultural statt und lässt mir fast drei Stunden Zeit, über Sinn und Unsinn dieser Reise nachzudenken. Wir sitzen in einer Art leerem Beton-Schwimmbecken auf Klappstühlchen oder auf den Stufen am Rand, ich friere mir langsam die Beine ab, während vorne erst eine geschlagene Stunde lang Grußworte gelesen und
zur Versicherung der gegenseitigen Freundschaft Bücher unterschrieben werden. Und im Anschluss wird ein Buch vorgestellt, für das zahllose Dichter und bildende Künstler sich vom Nationalepos Araucana haben inspieren lassen. Die Installationen der Künstler sind draußen zu bewundern, aber die Gedichte sollen wir uns anhören – gleich 16 Dichter haben sie eingeladen, ihre Texte bei der Kongresseröffnung zu lesen. Ich liebe Lyrik und ich arbeite furchtbar gerne mit Gedichten, aber so etwas strapaziert meine Geduld. Eine schier endlose Lyrik-Lesung, die furchtbar gut gemeint ist und an der sicher auch gute Leute beteiligt waren, die man aber hinter ihrem Tisch nicht sehen konnte und die fast alle ihre Lesung mit umständlichen Dankesworten für die Einladenden begannen, und deren Texte ich dann einmal höre, ohne die Wörter zu sehen oder einen spitzen Stift zur Hand zu haben, das ist nicht meins. Wäre es noch länger gegangen, sie hätten mich eine veritable Identitätskrise gelesen. Ein Drittel der Poeten widmetete das Gelesene den gefangenen Mapuche, die sich im Hungerstreik befinden, ein Dichter schloss sich dieser Widmung an und ergänzte dann, dass seine Lektüre außerdem den Minenarbeitern im Norden gewidmet sie, denn dort, so ergänzte er etwas schamhaft, komme er her. Höflicher Applaus für diese Ergänzung. Das Auditorium begleitete die Lesungen etwa zur Hälfte frenetisch, die andere Hälfte war eher still oder schlich sich irgendwann raus. Der anschließende „Cóctel“ zur Eröffnung löste sich dann auch entsprechend schnell auf. Ich kannte (oder erkannte) niemanden, den Namen nach müsste ich eigentlich einige kennen, aber Namensschilder gibt es erst morgen und die Namen, zu denen ich bereits ein Gesicht habe, waren nicht da, auch mein Dichter war verhindert, nur ein älterer Dozent der Universität Arica, der kaum mehr Leute kannte als ich, blieb treu an meiner Seite. Fröstelnd erklärten wir das Fest dann relativ bald für beendet. Morgen geht es hier mit Arbeit weiter, ich hoffe, es gibt zwischendurch auch was zu erzählen. Und Licht und Fotos. [Apropos Licht: Oh, Stromausfall!]

12 Tage Santiago [3]

Kalte Winterluft am Morgen, aber sonnig. Ich frühstücke Hostal-Kaffee – Nescafé schwarz, denn in Instantkaffee (was ist nur los mit den Kaffeeländern, dass sie so auf Instantkaffee stehen?) auch noch Instantmilchpulver zu krümeln scheint mir die Lage nicht zu verbessern. Erst danach öffne ich vordfreudig und fast rituell meine Mails, das ist das Gute an der Zeitverschiebung, die Gewissheit, morgens etwas vorzufinden. Und ich finde, nämlich Berichte vom Kind – das beherrscht nun, wie ich erfahre, zwei neue Wörter sicher: „Bagger“ und das Familienwort für „Penis“; Männlichkeitswahn daheim? – und wie jeden Morgen ein für mich geschriebenes und sehr anrührendes Tagebuch. Darin enthalten mein täglicher Ohrwurm, heute habe ich also dem chilenischen Winter angemessen italienische Songs geträllert, bis auf dem Kunsthandwerksmarkt ein albern hüpfender Huayno aus dem Andenhochland dazwischenkam. Außerdem versorgt mich der Liebste am Wochenende mit Nachrichten zu den Spielständen. (Das 3:6 war ein gezieltes Verklappsen der Tippspielrunden, oder?!)

[Foto: Perro chilensis]
Mittags war ich bei Señora Eliana eingeladen, sie ist genauso winzig wie damals und etwas grauer („aber bald färb ich mich wieder!“), auch die Pension ist unverändert, einer der kleinen Hunde ist tot, aber jedes der von den Gästen aus aller Welt mitgebrachten Andenken ist noch an seinem Platz, ebenso Don Felipe, der alte Pensionsgast, der dort nicht wohnt, aber seit 33 Jahren jede einzeln
e Mahlzeit dort einnimmt und zu Hause nicht mal einen Teelöffel hat, und der wie vor 5 Jahren am Kopfende des Esstischs sitzt und wartet. Es gibt eine Kostprobe von Sra Elianas Kochkunst, Kartoffelbrei aus der Tüte mit gekochtem Schinken, zum Nachtisch Banane mit Erdbeermarmelade, und dann bereitet sie uns einen „bajativo“ zu, Fernet mit Menta, ein Eiswürfel, sorgfältig eingeschenkt und von Don Felipe erklärt, wie immer, „Fernet ist bitter und Menta ist süß, und zusammen – exquisit!“, dann umgerührt („so rührt man das um, genau so“) und schließlich nimmt sie einen Teelöffel voll aus meinem Glas, „köstlich“, und lacht selbst über das Theater. Die beiden erzählen vom Erdbeben und ein bisschen von den letzten fünf Jahren, über die es aber nicht so viel zu berichten gibt, nur dass auf die Wahlkampfzentrale von Michelle Bachelet gegenüber irgendwann eine Bombenattentat verübt wurde und dass das Haus nun gelb gestrichen und von Leuten von den Osterinseln bewohnt sei. Ein bisschen reden wir dann noch über das relativ neue Scheidungsrecht, Chile gehört zu den letzten Ländern, die Scheidungen legalisiert haben. Zuvor war es nur (bedingt) möglich, Ehen annullieren zu lassen. Konsequenz der über Jahrzehnte aufgestauten gescheiterten Ehen, die nun endlich auch offiziell auseinandergehen dürfen, sei in Kombination mit einer allgemeinen Heiratsmüdigkeit gewesen, dass im vergangenen Jahr mehr Ehen geschieden als geschlossen wurden. Auch ich kenne jemanden in Chile, der sich vor kurzem von seinem seit fast einem halben Jahrhundert getrennten Partner hat scheiden lassen – allerdings in diesem Fall, um dann umgehend endlich die ebenfalls seit fast einem halben Jahrhundert mit ihnen lebenden „neue“ Liebe und Mutter seiner Kinder zu heiraten.


[Fotos: Kathedrale, Portal und einzelne Bodenfliese]
Anschließend bummele über den Kunsthandwerksmarkt, kaufe dem Söhnchen einen peruanischen Alpaka-Pullover mit Pinguin (der wahrscheinlich „pica“) und probiere Mapuche-Ohrringe an. Diese Ohrringe wollte ich mir schon vor fünf Jahren kaufen und habe es dann aus Geiz nicht mehr gemacht, im März bin ich aus Erdbebengründen nicht dazu gekommen, und heute – heute habe ich sie wieder nicht gekauft, denn so schön der Mapuche-Schmuck ist, er scheint mir einfach nicht zu blondem Fusselhaar zu passen. Die großen Silberanhänger brauchen die wunderschönen, stolzen und unglaublich fotogenen Gesichter der Mapuche-Frauen.

[Foto: Ecke Plaza de Armas, gelb angestrahlt die Post]
Später gehe ich dann durch die Fußgängerzone und hoffe, dass die großartigen Puppenspieler, die ich früher jeden Sonntag angeschaut habe, dort sind – sind sie nicht – und gehe dann mit einem Himbeereis auf die Plaza de Armas. Himbeeren sind nicht unbedingt das erste, was man mit Chile assoziiert, da kommen doch eher die Vulkane, Wollsocken oder Fischgerichte, vielleicht auch – wenn man länger mit mir zu tun hatte – Dichter. Doch man sollte sich die hiesigen Himbeeren in allen Varianten auf keinen Fall entgehen lassen.


[Foto: Kathedrale]

In der Kathedrale gelingt mir vor der Statue des neuesten chilenischen Heiligen, Padre Hurtado, eines von drei Fotos, die ich dort heute gesehen und gern gemacht hätte, die anderen beiden wären das Mädchen gewesen, das mit einem sternförmigen Luftballon in die Krypta steigt (unscharf), und das kleine Mädchen, das sich auf das Becken mit dem Weihwasser lehnt, um an den Tropfen unter der Marmorhand zu kommen (nicht getraut).
[Übrigens ist es hier recht unproblematisch, Menschen zu fotografieren, meist frage ich einfach, und jemand wie „Elvis“, der Schlagzeuger von gestern, bekommt dann auch eine Spende in seine Sammelbüchse.]Am Ende des Abends Kaffee und Lektüre im „Café de las Artes“ in der Nähe des
Museo de Bellas Artes, ein schönes Café, was ich eigentlich gesucht, aber nicht gefunden hatte, und was dann doch auf meinem alternativen Heimweg lag.

12 Tage Santiago [2]

Drei Tage über drei Kontinente war doch anstrengend, und heute Nacht habe ich 11 Stunden geschlafen. Als ich das erste Mal aufwachte, regnete es draußen, ein paar Tropfen waren auf der winzigen Milchglasscheibe meines Zimmers zu sehen, aber es rauschte heftig. Schade, dass mein Schirm im Koffer und der in Atlanta ist, dachte ich, drehte mich zum ersten Mal in dieser Nacht um und schlief weiter. Als ich später wach wurde, regnete es noch immer. Im Bad, was ein größeres Fenster hat, stellte ich dann fest, dass es gar nicht regnete, allerdings ist die Klospülung defekt, daher das Rauschen. Den Vormittag habe ich vorwiegend mit Warten verbracht, Warten auf meinen Dichter, Warten auf jemanden vom Flughafen, der dann hoffentlich meinen Koffer dabei hat. Beide kamen, der Dichter nach einem nicht zu verstehenden Anruf, der Koffer unmittelbar nach einem nachhakenden Anruf meinerseits bei Delta. Sehr gut, es ist doch ganz angenehm, sich alle paar Tage was Frisches anzuziehen. Mein Dichter und ich sind dann losgegangen, ohne genauen Plan, und nachdem ich ihm mein-sein Buch gegeben hatte, konnte er auch nicht mehr klar denken, meinte er. So gingen wir erst mal Richtung U-Bahn, er das noch eingeschweißte Buch in der Hand („damit es keinen Schaden nimmt“), und beschlossen, Dinge zu erledigen, die er sowieso erledigen musste, seine neue Brille abholen zum Beispiel. In Santiago ist jede Art von Laden in einer eigenen Straße angesiedelt, alle Lampenläden liegen nebeneinander in einer einzigen Straße, ebenso alle Antiquariate oder Schuhläden. Wir gingen zu den Brillenläden, die sich vor allem in der Nähe der Biblioteca Nacional ansiedeln, seiner lag in einer Galerie versteckt im 9. Stock. Oben erwarteten uns nur Handwerker, die an der Elektrizität herumschraubten, und auf dem Gang einige deutliche Risse, die das Erdbeben im Februar hinterlassen hat. Plan B war dann ein Kaffee im „Café Colonia“, wo es – was für deutsche Touristen ja maximal halb so attraktiv ist wie vermutet – Kuchen nach deutschen Rezepten gibt. Aber auch Kaffee, und auf Nachfrage auch echten Kaffee („café café“ oder „café de grano“) statt Nescafé. Schon durch die Scheibe wurde mein Dichter von einem etwa gleichalten Herrn gegrüßt, das geht mir mit ihm immer so, dass wir irgendwo hinkommen und er jemanden kennt – dieses Mal war es ein Herr, den er in der Zeit der politischen Verfolgung und Verbannung kennengelernt hatte, ein Leidensgenosse aus der Diktatur, der sich sehr freute, uns zu sehen. Außerdem war es, und auch diese Art von Zufall scheint mir hier System zu haben, der Augenarzt, dem auch der Brillenladen gehört, in dem wir gerade eben vergebelich waren. Wir setzten uns dazu, und etwas zwei Stunden lang rezitierten die beiden Herren um die Wette Gedichte, Spanier des Goldenen Zeitalters oder meinen Dichter selbst. Dem Freund wurde dann die Ehre zuteil, als erster das endlich von der Folie befreite Buch zu öffnen, in dem mein Dichter dann immer wieder ratlos und versonnen blätterte, einzelne Gedichte las oder seine eigenen, eingescannten Briefe aus der Diktatur (den eigentlichen Text versteht er nicht, da auf Deutsch), und mich am Ende bat, ihm eine einzige Frage ehrlich zu beantworten: Ob so ein dickes Buch nicht furchtbar übertrieben sei?


Nach einem weiteren Ausflug in den Brillenladen, diesmal mit dem Freund und Optiker, hatte er seine neuen Brillen und wir gingen zum Zentralen Markt, um dort Mittag zu essen. Die Fischrestaurants auf dem Markt sind legendär, allerdings wurden wir schon auf der Straße vor dem Markt von Abgesandten einzelner Restaurants bedrängt, die uns umwarben. Wir behaupteten zwar, nur Salat kaufen zu wollen (gekauft habe ich allerdings eine Chirimoya und eine Avocado und wollte natürlich fotografieren und tatsächlich Fisch essen), aber so richtig wurden wir die Werber nicht los, das war etwas lästig. Man sollte als Einheimischer nicht mit so offensichtlichen Touristen wie mir unterwegs sein.


Der Fisch war schließlich mittelgut, beziehungsweise der Fisch (Congrio, Seeaal) gut, aber die darauf geworfenen Meeresfrüchte hatten für meinen Geschmack etwas viel Koriander, wenn ich das richtig erkannt habe, dafür wurde um uns herum so laut Karaoke gesungen (und die Pavarotti-Stimmen für echt ausgegeben) und die Fischhändler-Sänger und Mädchen mit echtem Basilikum um Arm und vermeintlichen Opernstimmen so laut gefeiert, dass wir uns kaum noch unterhalten konnten.


Am Nachmittag habe ich mich getraut, in meiner alten Pension vorbeizugehen, die Telefonnummer hatte nicht mehr gestimmt und auch alle anderen Versuche, die Wirtin zu von Deutschland aus zu erreichen waren gescheitert, so dass ich im Geheimen Schlimmes befürchtete. Von außen war nicht zu erkennen, ob das Haus in der kleinen Passage direkt hinter meinem Hostal noch eine Pension war, ob überhaupt noch jemand dort wohnte. Ich habe dann die Enkelin im Schlafanzug herausgeklingelt, die Señora betreibt die Pension noch, sei nur gerade nicht da. Ich bin erleichtert und morgen zum Essen eingeladen.


Schließlich habe ich mich wieder aufgemacht in mein Stammcafé, um dort an meinem Vortag zu schreiben, dieses Mal durch den parallel zum Rio Mapocho verlaufenden Parque Forestal, wo zahllose Pärchen auf dem Rasen lagerten und den Frühling herbeiknutschten. Jetzt m um 10 Uhr abends, tragen die Leute auf der Straße wieder Mützen und dicke Jacken und begeben sich ins Nachtleben. Ich habe zu meinem Vortrag (ein Gedicht muss ich morgen noch in die Mangel nehmen) den wunderbaren Licuado de Frambuesa
(Himbeermilchshake) getrunken, der nicht mehr auf der Karte steht, den sie aber noch haben, und später noch einen – wenn schon! – eher peruanischen Pisco Sour mit Empanaditas, Mini-Empanadas. Diese waren überraschenderweise mit Congrio (Seeaal) gefüllt, und insgesamt hatte ich dann heute genug von Fisch und gehe nun Richtung Hostal. Den Regen versuche ich durch Zurechtruckeln des Spülkasten heute Nacht zu unterbinden.

12 Tage Santiago [1]


(Auch wenn der Titel es suggeriert: 12 Tage Santiago werden sicher nicht so ausfühlich hier Platz finden wie 40 Tage Buenos Aires, die Vertrautheit mit der Stadt ist eine andere, vor allem aber Dauer und Art des Aufenthaltes. Dennoch mag ja vielleicht der ein oder andere Fotos sehen, und dazu gibt es ja möglicherweise auch mal was zu erzählen.)
Zum, wenn ich richtig gezählt habe, achten Mal nach Südamerika geflogen, wieder einen der Einreisestempel mit rot-blauem Farbverlauf bekommen (Stempel sind es mehr als acht, denn die Reisen von einem Land ins nächste habe ich nicht gezählt). Die letzte Etappe der langen Reise begann im Dunkeln, wir warteten auf die Starterlaubnis, während vor uns ein Flugzeug nach dem anderen vampirgleich in den (fast runden) Vollmond abhob. Schließlich auch wir. Dieser Mond beleuchtete die dicken Regenwolken von oben, eine unwirkliche Landschaft in Dunkelgrau, unbewohnt und gespenstisch schön. Ein Blitzen über dem Flügel entpuppte sich dann als Gewitter, was auf Augenhöhe und im Mondlicht von atemberaubender Schönheit ist – ein anthrazitfarbener Wolkenberg, von oben vom Vollmond aufgehellt, leuchtet durch den völlig strukturlosen Blitz auf einmal von innen heraus als Ganzer auf, die gessamte große Wolke zitternde Energie und Licht. Ich habe beim Staunen und Schauen kurzzeitig meine Kamera verflucht und die alte analoge zurückgewünscht, die sich nicht mit dem Kommentar „Motiv zu dunkel“ dem Auslösen verweigert. Leider kein Gewitterbild.
Im Flugzeug von Atlanta nach Santiago das ganze bunte Programm Südamerikareisender. Um mich herum ausgewanderte Familien auf Heimaturlaub, eine allein im Ausland studierende Architektin auf dem Weg zur Abschussfeier ihrer Tochter, eine Gruppe jugendlicher US-Amerikaner in kurzen Hosen und Strohhüten mit Skistiefeln über der Schulter, die den Landeanflug „amazing!“ finden. Womit sie Recht haben, auch wenn man auf dieser Route nicht den spektakulären Sturzflug in die Andengipfel beginnt, der dann doch auf dem überraschend hinter der letzten verschneiten Bergkette auftauchenden Flughafen endet, sondern über das Meer kommt und lange im Dunkeln an der endlosen Küstenlinie entlangfliegt. In etwa 3000m Höhe das Gebiet überflogen, wo die verschütteten Minenarbeiter in 700m Tiefe eingeschlossen sind, und das wahrscheinlich noch bis in den Advent, was ihnen selbst noch verschwiegen wird.

Das Titelthema heute war neben den eingeschlossenen Minenarbeitern das große Erdbeben vom 27. Februar, auf der gesamten Fahrt vom Flughafen in die Stadt gab es Radiofeatures dazu, was ist in den letzten sechs Monaten passiert, wo leben die Menschen noch immer auf der Straße oder in Notunterkünften, welche Brücke ist wieder aufgebaut, welche Versprechen wurden gehalten und was funktioniert noch lange nicht wieder. Unterdessen konnte ich einige der in Santiago ja nur bedingt sichtbaren Schäden des Erdbebens sehen, eingeknickte Stahlträger einer Lagerhalle neben dem Flughafen, der Flughafen selbst zu weiten Teilen Baustelle, wo eingestürzte Teile wieder aufgebaut werden, große Betonbrocken auf dem zerbröselten Mittelstreifen der Straße, die in die Stadt führt und die es damals zusammengeschoben hatte, eine Brücke ohne Geländer und mit zackiger Abbruchkante, durch Pilonen gesichert. Je näher wir dem Zentrum kamen, desto weniger wurden die Schäden.
Ich bin gut in Santiago angekommen, mein Gepäck allerdings nicht, das ist in Atlanta geblieben. Es wäre schön, wenn es morgen ankäme, so das ein oder andere könnte ich gebrauchen. Das Allernötigste habe ich mir gleich nach der Ankunft besorgt, Handtuch und Deo zum Beispiel, dabei gemerkt, welche Details ich vergessen hatte: Dass es phänotypbedingt hier kein Volumen-Shampoo gibt zum Beispiel. Im Hostal wieder daran erinnert, dass manche Lichtschalter auf Schienbeinhöhe liegen. Und der Geruch – den hatte ich nicht wirklich vergessen, hätte ihn aber, wie bei Gerüchen meist, auch nicht klar erinnern und schon gar nicht beschreiben können, aber jetzt ist er wieder da und ganz vertraut, wie auch die Geräusche. Komisch, dass ganze Länder einen Eigengeruch haben können.


Da ich kaum 500m von meiner Unterkunft von vor fünf Jahren entfernt wohne, ist auch das direkte Umfeld vertraut, und das Vertraute habe ich heute gesucht. Nur hat mir jemand gefehlt, mit dem ich das teilen kann, die Erinnerungen wie das Neue, erzählen und mich oder uns begeistern. In einer schlichten Cafetería um die Ecke habe ich, wie damals gelegentlich mit dem Mitbewohner, einen „Barros Luco“ gegessen, ein Sandwich aus Hamburgerbrötchen mit Fleisch und geschmolzenem Käse, und selbst die Bedienung war die gleiche.


Praktischer Reiseipp: Den Ketchup vorsichtig dosieren, das in der roten Plastikflasche ist nämlich Chilie-Sauce.
In meinem Stamm-Café – die Café-Kultur ist hier lange nicht so ausgeprägt wie nebenan in Argentinien, und ich war 2005 froh, überhaupt ein Café zu finden, wo man länger sitzen kann – habe ich anschließend an meinem Vortrag gearbeitet.
 


In einen südlichen Spätwinter katapultiert habe ich nach einem sonnig milden Tag dann doch in meinen zwei Strickjacken gefröstelt, während draußen die Leute den Frühling witterten: Einzelne Büsche trugen zartes Grün, die Kirschen einzelne Blüten und die Menschen kurze Ärmel zu den dicken Schals und flanierten Eis schleckend vorbei.
Frühling auch auf dem Heimweg durch die Victoriano Lastarria, wo der Buchflohmarkt selbst im Dunkeln noch reges Interesses findet, die Straßen summend voll und alle Tischchen vor den Kneipen besetzt, ich habe mich gefreut über die Gesprächsfetzen, Gerüche und Leute, bin aber vorbeigegangen, nach der mehrtägigen Reise über drei Kontinente und der Zeitumstellung zu müde für Draußen.
 

Und wieder los

Antrag auf eine Dienstreise ausgefüllt.
„Wann beginnt Ihre Dienstreise? (Genaue Uhrzeit angeben!)“ – „Morgen früh, 4:00 Uhr“
„Legen Sie die Dienstreise im eigenen PKW oder mit der Bahn zurück?“ – „Weder noch.“ (Leute, ich fahr nach Chile. Schiff oder Flugzeug wären da die Alternativen.)
„Grund für die Benutzung eines sonstigen Beförderungsmittels (z.B. Mietwagen, Flugzeug) angeben“ -„Chile ist anders kaum in vertretbarer Zeit zu erreichen. Weltkarte liegt bei.“
*
Hostal gebucht. „Bitte überweisen Sie per Kreditkarte eine Anzahlung von € 3,72.“ Keine Kreditkarte gehabt, nicht buchen können. Freunde vor Ort aktiviert, die zum Hostal gefahren sind und für mich 3 Euro angezahlt haben. Hostal gebucht.
*
Dollar für den langen Flughafen-Transit-Aufenthalt getauscht. Einen Stapel Bücher auf Taschen verteilt. Keine Zeit mehr, auch meinen mp3-Player mit Musik zu bespielen.
*
Kindersachen für zwei Wochen gepackt. Musik gehört und nicht geweint. Noch nicht.
*

Kind abgegeben. Kind geküsst. Geweint.
*
Packen.
*
Flugangst wird auch nicht besser, wenn man ein Kind daheim hat.
Packen.

Lesen

Und zwar vor.
Auf einmal werde ich gebucht, und zwar für gleich mehrere Lesungen nacheinander. Einige Argentinier kommen bald wegen der Buchmesse nach Deutschland, werden herumgereicht, und irgendwann setze ich mich mit ihnen in diversen Städten auf eine Bühne und erzähle etwas über sie und dann lesen sie und wir unterhalten uns darüber, was ich dann wiederum dem Publikum übersetze. Ich freu mich, es sind alles gute Autoren an schönen Orten, und ich musste nicht mal für mich werben. Ich freu mich sogar sehr.
Heute telefonierte mit der Organisatorin der einen Lesung, sie fragte, ob wir eigentlich schon ein Honorar vereinbart hätten. Ja, meinte ich, und nannte die Summe, die sie mir ursprünglich angeboten hatte. Sie schwieg einen Moment und ich war schon kurz verunsichert, dann sagte sie: „Nein, eigentlich sollen Sie 100 Euro mehr bekommen.“
Gut, hochhandeln lasse ich mich gerne.
Was ist eigentlich gerade los?
*
Bei Lesungen ausländischer Autoren sitzen meist etwas mehr Leute auf der Bühne, der Autor selbst, daneben jemand wie ich, der dolmetscht und moderiert – das können natürlich auch zwei verschiedene Personen sein -, und dann wird manchmal noch jemand Drittes bzw. Viertes gebucht, der die deutschen Texte liest. Der Autor liest das Original, und irgendjemand die Übersetzung. Für einen der anstehenden Abende wurde ich gefragt, ob ich dafür jemanden empfehlen könne, bevorzugt einen Schauspieler. Nun liest man ja nicht ohne Nachhall über Übersetzer und ihre Arbeit und hat auch seine eigenen Erfahrungen als Übersetzer nicht umsonst gemacht und erinnert gut das Gefühl, wenn der eigene Autor nach Deutschland eingeladen wird und irgendjemand, der gut sprechen kann, seine Texte auf Deutsch lesen soll – seine Texte, die auf Deutsch ja die des Übersetzers sind. Keiner kennt die deutsche Version so gut wie der Übersetzer, logisch, und kaum einer kennt auch das Original so gut wie er. Und manche Übersetzer können sicher auch lesen, einzelne sogar vor. Und wenn man noch weiter gehen wollte, könnten sie sicher auch im Gespräch Spannendes beisteuern.
Die Organisatorin stimmte sofort zu, das sehe sie genauso, außerdem seien die Übersetzer im Literaturbetrieb grundsätzlich unterrepräsentiert. Nur sprengt es in diesem Fall wohl das Budget, den nicht ortsansässigen Übersetzer auch noch anreisen zu lassen. Aber vielleicht kann man, ohne Schauspieler arbeitslos machen zu wollen, den Gedanken ja langsam weiterverbreiten: Wer den Text geschrieben hat, könnte ihn eigentlich auch vorlesen.

Raumfragen

Meine Wohnung und mein Arbeitsplatz liegen etwa 15 Fahrradminuten bergab auseinander, auf dem Rückweg oder mit Kind hinten drauf dauert es etwas länger. Der Weg ist machbar, aber ohne Radwege auf einer ampelreichen, sehr befahrenen Straße nicht wirklich schön. Baby B. geht nun in eine Krippe, die praktischerweise genau gegenüber liegt, wir müssen nur einmal über die stark befahrene Straße gehen und 100m bergauf stapfen, dann sind wir da. Und dann kann ich bergab zur Arbeit radeln und mittags wieder zu meinem sehr fröhlichen und müden Kindergartenkind.
Bald haben wir eine neue Wohnung, eine Traumwohnung, die ich von Freunden übernehmen kann. Eine Wohnung, wie ich sie mir immer gewünscht habe, Altbau mit Erker und Dielen und hohen Decken und einem traumhaften Garten mit Schaukel, Rosen, Obstbäumen und Beerensträuchern. Sie liegt direkt gegenüber von meiner Arbeit, exakt vis-à-vis und im gleichen Stockwerk, ich gucke mir also in Zukunft permanent selbst ins Fenster, vom Wohnzimmer ins Büro und vom Büro ins Wohnzimmer, aber ich werde mich dort nie sehen. Ich brauche dann von Tür zu Tür wohl etwa 40 Sekunden, wenn ich alle Treppen zu Fuß nehme oder einen Kollegen treffe oder noch am Briefkasten anhalte vielleicht etwas länger. Allerdings werde ich dann ja Baby B. erst mit dem Rad in die Kita bei der alten Wohnung bringen müssen, bevor ich dann quasi zu Hause wieder zur Arbeit kann. Und mittags das gleiche retour. Finden Sie den Fehler.
Nun liegt auch auf der anderen Seite meines Arbeitsplatzes eine Kita, die gut sein soll, damit hätten wir dann alles in einer auch für Kinderfüße (Größe 21-22) zu bewältigenden Distanz zueinander. Heute habe ich also dort angerufen, meine Situation geschildert und gefragt, wie es mit Plätzen oder einer Warteliste aussähe. Sie hätten eine lange Warteliste, könnten uns draufsetzen, aber nichts versprechen. Sie sei schon sehr lang, aber vielleicht würde es im August klappen.
Im August! Ich frohlockte ein bisschen, erklärte aber, dass es so eilig gar nicht sei, Oktober oder November oder sogar Dezember würde auch reichen, es wäre nur toll, wenn wir irgendwann wechseln könnten.
Die nette Kitaleiterin am anderen Ende prustete kurz. „Die Warteliste für August ZweitausendELF ist bereits sehr lang, meinte ich natürlich.“
“ I hab eigentlich bloß noch oi Problem: Raum und Zeit… aber des check i au no!

August

Wenn die Tage kürzer werden, ist der Sommer nicht mehr lang. Nach meinem Geburtstag ist der Sommer fast vorbei. Und wenn die Brombeeren reif sind, ist der Sommer zu Ende.
Es gibt genau zwei gute Gründe, sich über das nahende Ende des Sommers zu freuen: Der eine sind meine Füße, die nach herrlichen Wochen des Barfußlaufens und der offenen Schuhe so kaputt sind, dass ich bei jedem Schritt an die kleine Meerjungfrau denke. Jeder Schritt ein Schritt in ein offenes Messer. Socken mit Creme werden eine Erleichterung sein und sehen mag diese nackten Füße, ruckediguh, Blut ist im Schuh, auch schon lange keiner mehr.
Der zweite Grund fällt mir gerade nicht ein.